Materialien 2023

Eine verpasste Chance

Meine Gedanken zum Krieg zwischen Israel und Hamas

„Dem Brith Schalom schwebt ein binationales Palästina vor, in welchem beide Völker in völliger Gleichberechtigung leben, beide als gleich starke Faktoren das Schicksal des Landes bestimmend, ohne Rücksicht darauf, welches der beiden Völker an Zahl überragt. Ebenso wie die wohlerwor-
benen Rechte der Araber nicht um Haaresbreite verkürzt werden dürfen, ebenso muss das Recht der Juden anerkannt werden, sich in ihrem alten Heimatlande ungestört nach ihrer nationalen Eigenart zu entwickeln und eine möglichst große Zahl ihrer Brüder an dieser Entwicklung teil-
nehmen zu lassen.“
1

Dieses Manifest, das bereits 1929 verfasst wurde, wäre die Chance für die Juden, im Nahen Osten anzukommen. Leider haben die Juden aber es vorgezogen, statt einen gemeinsamen Staat mit der dort ansässigen Bevölkerung zu gründen, ihren Staat mit Gewalt zu erobern. War es wirklich not-
wendig, die palästinensischen Orte zu zerstören und die Bevölkerung zu vertreiben? So begann für die Palästinenser die bis heute anhaltende Nakba; damit haben Ben-Gurion und seine Regierung es in Kauf genommen, dass Israel immer ein Fremdkörper in der Region bleiben würde. Das Schick-
sal der vertriebenen Palästinenser hat niemanden nach 1948 interessiert.

Auch Persönlichkeiten wie Albert Einstein und Hannah Arendt waren skeptisch. Albert Einstein: „Frieden kann nicht mit Gewalt aufrechterhalten werden; er kann nur durch Verständnis erreicht werden. Nicht Herkunft oder Religion sollte unser Sein und unser Leben bestimmen, sondern allein die Vernunft, die Toleranz und die Verantwortung füreinander!“ Hannah Arendt plädierte für einen jüdischen Staat im Rahmen eines föderativen, multiethnischen Konstrukts. Nur so, glaubte sie, konnte die jüdische Nation Teil der Nationen der Welt werden.

Die Zustimmung der Weltgemeinschaft zur Gründung des neuen Staates ging auf das Versagen der Länder zurück, die Juden aus der Barbarei der Nazis zu befreien. Auch sah der Westen Israel als sein Bollwerk in der Region.

Eine weitere Chance für Israel wäre die Niederlage der arabischen Staaten nach 1967 gewesen. Es war diesmal Golda Meir, die nicht bereit war, mit den besiegten Staaten Jordanien und Ägypten über einen eigenständigen palästinensischen Staat zu verhandeln.

Der Erste, der verstanden hat, dass der Konflikt nicht mit Gewalt zu lösen war, war Yitzhak Rabin (der bestimmt kein Linker war). Dafür musste er mit seinem Leben bezahlen; ihm wurde vorge-
worfen, „er kümmere sich nicht um sein Land“.

Zu Hamas: Israel hat Hamas als Konkurrenz zur PLO aufgebaut, um die palästinensische Bevölke-
rung zu spalten. Für Netanyahu war immer klar, dass er nie mit der Hamas über einen Frieden verhandeln würde. Er befürchtete jedoch, dass der Westen ihn evtl. zu einem Frieden mit der PLO zwingen würde. Da er die Hamas gebraucht hat und auch heute noch braucht, hat er sie nach kei-
nem Gazakrieg vernichtet.

Im Gegensatz zu vielen Palästina-Anhängern in Deutschland wollen die Palästinenser vor Ort we-
der die Hamas noch die PLO – sie wollen in Frieden und Freiheit leben. Vor allem die jungen Men-
schen, die keine Zukunft für sich sehen und aus den sozialen Medien entnehmen, wie andere junge Menschen leben, wünschen sich nichts anderes als wie alle Jugendliche in der Welt zu leben.

Die Hamas hat in ihrer letzten gewaltätigen und brutalen Aktion vom 7. Oktober genau die Orte zerstört und deren Einwohner ermordet bzw. verschleppt, die gegen die Politik ihrer Regierung de-
monstriert haben und zum großen Teil zum Friedenslager gehörten. Bis zur Abriegelung des Gaza-
streifens gab es von ihnen sogar Unterstützung für die Bewohner Gazas. Viele der Verwandten der Ermordeten und Verschleppten beschuldigen die eigene Regierung für den Tod und die Geiselhaft ihrer Angehörigen verantwortlich zu sein.

Hamas hält die palästinensische Bevölkerung als Geisel genau wie die israelische Regierung es mit ihrer Bevölkerung tut. Der Westen hat es versäumt, die Bevölkerungen auf beiden Seiten und nicht ihre korrupten Regierungen zu unterstützen.

Warum hat der Westen nicht gegen die Gewalt der Siedler protestiert, die jede Form von Zusam-
menleben verhindert? Ist das die Staatsräson, von der immer wieder die Rede ist? Ich höre zwar, dass die deutsche und europäische Politik versagt hat, aber die deutschen Politiker stellen sich wieder auf die Seite Israels, auf die Seite des Mannes, gegen den wöchentlich demonstriert wird. Warum eigentlich? Somit verhindert der Westen eine Lösung für alle dort lebenden Völker.

Auch das Abraham-Abkommen, auf das die Amerikaner so stolz sind, war kein Abkommen zwi-
schen den Bevölkerungen, sondern zwischen Despoten und der korrupten israelischen Regierung. Wieder einmal hat der Westen die falschen Kräfte unterstützt. So hat er verhindert, dass Israel im Nahen Osten ankommt. Eine Tragödie für Israel!

Israel befand sich zwar im Nahen Osten, hat aber in seinem „way of life“ immer die USA und Europa nachgeahmt. Wenn Israel im Nahen Osten ankommen will, muss es sich mit seinen Nach-
barn und nicht mit Amerika oder Europa verständigen.

Und nun zu Deutschland:

Was heißt Solidarität mit Israel – mit welchem Israel? Das Israel von Netanyahu, das mit den Siedlern in der Westbank das vollendet, was 1948 begann – die Säuberung der palästinensischen Gebiete, oder mit den Friedensgruppen?

Wieso wird gegen Antisemitismus gekämpft, nicht aber gegen Antiislamismus – ein Phänomen, das in Deutschland viel weiterverbreitet ist.

Warum wurden wir, die wir uns für die Gleichstellung der Palästinenser einsetzen – wir, die sehen, dass nur so auch Israel existieren kann – bekämpft? Warum haben die Juden in Deutschland, denen es so gut geht wie nie zuvor, jede Regierung Israels und nicht die Kräfte in Israel, die um die Zukunft dieses Landes kämpfen, unterstützt?

Warum durfte ich seit Jahren nicht über meine Geburtsstadt Jerusalem sprechen? Warum sollte mein Mann wegen seiner vorsichtigen Kritik an der Politik Israels mundtot gemacht werden? (Siehe sein letztes Buch „Allen Anfeindungen zum Trotz“.)

Mit genau dieser Politik haben Deutschland und der Westen dafür gesorgt, dass die Zukunft Israels im Nahen Osten immer unsicher bleiben wird und wir Juden wieder einmal als der „Ewige Jude“ abgestempelt werden.

Judith Bernstein
www.jpdg.de

1 Das Zitat ist dem Buch meines verstorbenen Mannes Reiner Bernstein „Wie alle Völker …? Israel und Palästina als Problem der internationalen Diplomatie“ entnommen.


Siehe https://www.youtube.com/watch?v=xT2xdAg7X8A.

Überraschung

Jahr: 2023
Bereich: Internationales