Flusslandschaft 1978
Frauen
Nicht nur im Kopf findet Emanzipation statt, sie äußert sich in Körpersprache, Handlungen, Bewegung im öffentlichen Raum.1
1976 verabschiedete die englische Regierung ein Anti-Sex-Diskriminierungsgesetz. Die Münch-
ner Gymnasiallehrerin für Sozialkunde und Kunst, Heide Hering, aktiv im Bundesvorstand der Humanistischen Union (HU), besorgte sich den Gesetzestext, übersetzte ihn und beschloss mit ihren KollegInnen eine ähnliche Initiative in Deutschland zu starten. Mit der Forderung nach einem Antidiskriminierungsgesetz durchreiste sie das Land, Redaktionen und Talkshows. „Auf einer HU-Tagung, im März 1978 in Saarbrücken, saß eine Mitarbeiterin des damaligen Geschäfts-
führers der FDP in der ersten Reihe und schrieb alles mit. Am nächsten Tag hörten wir dann ein Rundfunkinterview mit Günther Verheugen, in dem er ein Antidiskriminierungsgesetz für die BRD forderte, und auch den Inhalt eines solchen Gesetzes skizzierte. Dabei erwähnte er nicht, dass es sich dabei Wort für Wort um das Arbeitsergebnis der HU, nicht etwa um das der FDP handelte. Aber so läuft das ja immer: Wenn wir Erfolg haben, übernehmen die Parteien unsere Ideen und
die Ergebnisse unserer Arbeit, was auch durchaus unser Ziel ist. Aber ganz so sang- und klanglos geistige Urheberrechte zu ignorieren, wie Herr Verheugen es tat, das haben wir dann aber doch nicht so gerne. Natürlich brauchen wir zur Durchsetzung letzten Endes die Parteien in Bundestag und Regierung. Die kleinen ehrenamtlich arbeitenden Gruppen außerhalb des Parlaments sind aber auf die öffentliche Wahrnehmung ihrer Arbeit angewiesen, um weiterhin genügend Unter-
stützer zu finden. Ähnliche Erfahrungen habe ich leider auch mit der SPD gemacht: Wir werden
zu einer internen Informationsveranstaltung geladen – wir tragen vor, die Presse ist nicht geladen, und anschließend sind unsere Forderungen ganz still und leise zu SPD-Forderungen geworden. Mit der CDU/CSU gibt es logischerweise diesbezüglich keine Erfahrungen …“2
Eine in Neuperlach gegründete Frauengruppe schildert ihre Schwierigkeiten.3
Für den 15. April lädt die Gruppe „Kassandra“ ins Schwabinger Bräu, Leopoldstraße 82, unter dem Titel „Frauenbeziehung und Frauenliebe“. Hier stellen sich die lesbischen Frauen des Münch-
ner Frauenzentrums zum ersten Mal selbst dar; über 1.500 Frauen sind anwesend. Beim anschlie-
ßenden Fest wird ausgiebig getanzt.4
Seit April besteht die Frauenhilfe. In ihrem „Frauenhaus“, dem größten Deutschlands, bietet sie Platz für 45 misshandelte oder von Gewalt bedrohte Frauen sowie für 60 bis 80 Kinder.
In der Walpurgisnacht, diesmal die Nacht vom 29. auf den 30. April (Samstag/Sonntag), demon-
strieren ab 19.30 Uhr Frauen vom Stachus zur Münchner Freiheit.
Das Bundesverfassungsgericht verkündet ein Zwar-Aber-Urteil zur Sexualerziehung. Anfang Juni zeigt der Stern Nr. 24 auf seinem Titel ein Foto, das ein ungeschriebenes Gesetz der Presse verletzt. Es kann als Geschlechtsverkehr verstanden werden. „Chefredakteur Nannen hat das Titelbild auswechseln lassen und dazu im ‚stern‘ Nr. 28/1978 vorgetragen: ‚…. erschien mir persönlich als Titelbild so wenig geschmackvoll, dass ich es … mitten im Druck wechselte. Mein Einwand hatte vor allem handwerklich-journalistische Gründe.‘ Die Titelseite wird vordergründig zum Auslöser einer Frauenklage gegen den ‚stern‘, führt zum ersten ‚Sexismus-Prozess in der Bundesrepublik‘ … Der Klage ist der Erfolg versagt geblieben. Die Klägerinnen bewirken, dass zumindest vorüberge-
hend Frauenfragen kein Gettothema bleiben, sondern (wenn auch nur in einem Teilaspekt) in einer breiten Öffentlichkeit Beachtung finden.“5
Nachdem die „Frauengewaltgruppe“ erfahren hat, dass eine Frau von einem Mann vergewaltigt wurde, der in einem Lokal als Sänger auftritt, schreitet sie zur Tat.6
Seit dem 1. Juni 1978 gibt es in der Auenstraße 31 das Frauentherapiezentrum. In der Schmeller-
straße 17 in der Isarvorstadt entsteht die erste Frauenkneipe, zu der Männer keinen Zutritt haben.
Am 14. Juli demonstrieren Frauen vor dem Verlagsgebäude der Abendzeitung gegen den Abdruck eines „Sex-Reports“.7 Am 21. Juli wiederholen sie die Aktion.8
Vor 1976 kam es bei Schwangerschaftsabbrüchen pro Jahr bundesweit zu hundert Todesfällen, 1977 waren es acht Todesfälle, 1978 nur noch einer.
Siehe auch „Gewerkschaften/Arbeitswelt“.
(zuletzt geändert am 6.7.2020)
1 Siehe Jos „Unwürdige Greisinnen“.
2 Heide Hering: „Geschafft! Eine Verfassungsänderung! Über eine erfolgreiche HU-Initiative in der Frauenpolitik“ in vorgänge 155 Heft 3 vom September 2001, 116.
3 Siehe „Sonst herrschte hier Grabesstille …“ von Friederike Münch; siehe dazu auch „Stadtviertel“.
4 Vgl. „Frauenbeziehung/Frauenliebe/Frauenfest“ in: Blatt. Stadtzeitung für München 120 vom 5. Mai 1978, 8.
5 Kunst + Unterricht 55 vom Juni 1979, Velber bei Hannover, 45.
6 Siehe „Vergewaltigung“ von Boa Constrictor.
7 Vgl. Süddeutsche Zeitung 160/1978.
8 Vgl. „Frauenfeindlich“ in Blatt. Stadtzeitung für München 125 vom 21. Juli 1978, 5 f. und „Hölle der Erotik“ in Blatt. Stadtzeitung für München 126 vom 4. August 1978, 16.