Flusslandschaft 1979

Gewerkschaften/Arbeitswelt

Allgemeines
DGB

- Arnold & Richter
- Banken
- Bauunternehmen Ludwig Mathes
- Bundespost
- Busunternehmen
- Klinikum rechts der Isar
- Lehrerinnen und Lehrer


„Das Knöpfchen – Ganz viele Kinder kaufen sich jetzt ein Tamagotchi. Was das ist, fragst Du? Das ist einfach ein elektronisches Tierchen. Das musst Du per Knopfdruck füttern. Es piepst, wenn es Hunger hat oder Durst, wenn es spielen will oder kacken. Wenn Du es vernachlässigst, wird es krank. Schon nach kurzer Zeit. Und es stirbt, wenn Du es ein paar Stunden vergisst. Dann ist nur noch ein Grabhügel auf dem kleinen Monitor. – Ich habe mir sofort einen Tamagotchi-Chef ge-
kauft. Wenn der meine Arbeit will, brauche ich nur auf einen Knopf zu drücken – schon ist er glücklich. Dann piepst er und will Lohnverzicht. – Knopfdruck und er ist glücklich. – Neulich wäre er mir bald verreckt, weil ich Überstunden nicht gleich bestätigt habe. Hab mir schon überlegt, ob ich ihn deswegen dahinscheiden lassen soll. Dann habe ich doch noch gnädig auf den Knopf ge-
drückt, und er hat glücklich mit den Armen gewedelt und mit den Ohren gewackelt. Vorhin an der Linie habe ich das Tamagotchi meinen Kollegen gezeigt. Wir haben vielleicht gelacht, wie ich ihn kacken lasse. Aber dann kommt schon der Abteilungsleiter angeschlendert, die Arme auf dem Rük-
ken und mit diesem Blick, dem nichts entgeht. Bevor er da ist, stehen wir schon alle an unseren Plätzen. Die Arbeit läuft wie geschmiert. Jeder Handgriff sitzt. Ich fühl mich richtig gut dabei. Ge-
rade so, als hätte eben bei mir jemand auf’n Knopf gedrückt.“ Knut Becker1

In der Schulstraße 31 in Neuhausen befindet sich die Arbeitslosenselbsthilfe (ASH), die vor allem Umzüge und Entrümpelungen organisiert. Ihr Lagerraum mit gebrauchten Möbeln befindet sich in der Arnulfstraße 103. Anfang des Jahres gründet sich eine Gruppe „Recykling“.

Konkurrierende Kapitalien müssen kostenbewusst kalkulieren, sind auf angemessene Mehrwert-
schöpfung angewiesen und erfordern Expansion auf Kosten der Mitbewerber. Bei Strafe ihres Untergangs müssen sie die Zwänge der Ökonomie an die erste Stelle ihrer strategischen Konzep-
tion stellen. Die Behandlung des „Humankapitals“ kommt an letzter Stelle.2

13. September: „Mit einem zweitägigen Hungerstreik demonstriert eine achtzehnjährige Münchner Abiturientin vor dem Rathaus. Vierundfünfzig mal hat sie sich im Großraum München um einen Lehr- und Ausbildungsplatz beworben, ebenso oft bekam sie Absagen. Sie suchte eine Lehrstelle als Informationselektronikerin oder als Maschinenschlosserin.“3

DGB

18.000 Menschen demonstrieren beim Ersten Mai. Das Motto lautet „Arbeit für alle in einem Europa des sozialen Fortschritts“. Zuerst spricht Oberbürgermeister Kiesl. Seine Grußworte gehen in Pfiffen und Buhrufen unter. Dann spricht SPD-Vorsitzender Willy Brandt über die Direktwahl zum Europäischen Parlament. Sie böte die Chance zur Errichtung eines „Europas des sozialen Fortschritts“. Pfiffe und Buhrufe stören auch seine Ansprache. „Zur 1. Mai-Kundgebung hatte
der OV ein Flugblatt entworfen und erfolgreich verteilt, das die Benachteiligung der Frauen im Berufsleben anprangerte, an der auch die Gewerkschaft und Betriebsbeiräte bisher nichts Grund-
legendes verändert haben. Mit der deutlichen Warnung, ein Europa der Arbeitnehmer, das die weiblichen Arbeitskräfte weiterhin benachteiligt, sei nur ein ‚halbes Europa’, wurde ein Anti-
Diskriminierungs-Gesetz für die Bundesrepublik – mit Hinweis auf die HU-Broschüre – gefor-
dert.“4

Siehe auch „Frieden/Abrüstung“.

ARNOLD & RICHTER

In der Türkenstraße 89 in der Maxvorstadt befindet sich Arnold & Richter, weltweit bekannt
als ARRI. Dr. Richter, der 1972 stirbt, ist etwa 1,90 m groß, Robert (Bobby) Arnold dagegen ist
von kleiner Gestalt. Die weltweit agierende Firma hat mit ihren Kameras allein neun „Oscars“ eingeheimst. Im Dezember organisiert sich in der Belegschaft eine kleine Gruppe von Mitgliedern der Gewerkschaft Rundfunk-Fernseh-Film-Union (RFFU) und gibt eine Betriebszeitung mit dem Titel „Der kleine Bobby“ heraus. „Schon auf der ersten Seite wird darauf hingewiesen, dass Bobby eine Filmspule sei, es gebe kleinere und größere davon. »Selbst bei vorsichtigem Anfassen oder bei geringstem Widerstand kann der Bobby aus der Rolle fallen und der Film mit ihm durchgehen«, schreibt Heinz Koderer vom Kopierwerk im »Eingangsbefund«. Kein Wunder, dass Bobby, dem Boss, dieses nicht gefiel. Es gab Versetzungen, Prozesse, Kündigungen. »Der kleine Bobby« er-
schien im Dezember 1980 zum letzten Mal. Die Betriebsgruppe gab es fortan nicht mehr.“5

BANKEN

„Das hatte es in München vorher noch nie gegeben: Kollegen aus dem Bankgewerbe legten wäh-
rend der Tarifauseinandersetzungen die Arbeit nieder, um den Unternehmern klar zu machen, dass sie sich von ihnen nicht mehr auf der Nase herumtanzen lassen. Die HBV-Betriebsgruppe ‚Dresdner Bank’ München meldete in einem Informationsblatt stolz: ‚Die Zeiten haben sich ge-
ändert – auch wir haben gestreikt’. Bei den Bankherren herrschte darauf Bestürzung, bei den meisten Kollegen dagegen Anerkennung: die HBV hatte während der Tarifauseinandersetzungen einen beachtlichen Mitgliederzuwachs zu verzeichnen. An einem Informationsstand in der Fuß-
gängerzone wurde die Bevölkerung informiert. Mit harten Bandagen gekämpft wurde aber nicht nur bei den Banken, sondern auch im Einzelhandel, bis es zu einem Tarifabschluss von durch-
schnittlich 5,4 Prozent kam. Auch hier liefen Unterschriftensammlungen, im Festsaal des Hof-
bräuhauses fand eine Protestversammlung statt. Am entscheidenden Verhandlungstag schließlich, kamen Delegationen aus fünf Betrieben direkt in die Verhandlungsräume, um ihre Solidarität mit den Forderungen der HBV zu bekräftigen. Auf Unternehmerseite erregte dies Aufsehen und Unbe-
hagen. Eine wichtige Errungenschaft dieser Tarifauseinandersetzung: die Laufzeit der neuen Ur-
laubsregelung für den Einzelhandelsbereich (5 Wochen) beträgt lediglich 12 Monate! — ernst“6

BAUUNTERNEHMEN LUDWIG MATHES

Ausländische Arbeitnehmer sind im Vergleich zu ihren deutschen Kollegen auf allen Feldern be-
nachteiligt. Sie werden schlechter bezahlt, ihre Arbeit ist schmutziger, sie zahlen höhere Mieten. Und vor allem: Sie dürfen nicht krank werden.7

Im September hängt auf der Toilette des Unternehmens ein Zettel, auf dem zu lesen ist: „Bekannt-
machung – Auf unserem Betriebsgelände in München wurde ein Säugling gefunden und bei der Betriebsleitung abgegeben. Die Betriebsleitung verlangte umgehend Untersuchungen und Aufklä-
rung, ob dieser Findling ein Produkt des Betriebes ist und ob ein Firmenangehöriger beteiligt ist. Nach vierwöchiger Untersuchung sind wir der Überzeugung, daß der Findling kein Produkt unse-
rer Firma sein kann. Begründung: 1. In unserer Firma wurde noch nie etwas mit Lust und Liebe gemacht. 2. In unserer Firma haben noch nie zwei so eng zusammengearbeitet. 3. In unserer Firma wurde noch nie etwas gemacht, was Hand und Fuß hat. 4. In unserer Firma ist es noch nie vorge-
kommen, daß nach neun Monaten etwas fertig gewesen wäre.“

BUNDESPOST

Dreihundert Fernmeldelehrlinge protestieren am 23. Februar gegen ihre Nichtübernahme in den Fernmeldedienst.8 — Am 21.März demonstriert die Postgewerkschaft.9

Mitglieder der Postgewerkschaft demonstrieren am 15. Dezember gegen die unzumutbaren Be-
dingungen im Schalterdienst vom Sendlinger-Tor-Platz zum Telegrafenamt, das sie besetzen. Zu-
mindest erreichen sie einen zehnprozentigen Kundendienstzuschlag.10

BUSUNTERNEHMEN

Geschlossen streikten am 5. Juni die Arbeitnehmer bei den privaten Busunternehmen. In einem Unternehmen konnten durch Einschreiten der Polizei zwei Busse mit Streikbrechern ausfahren. — In einer zweiten Urabstimmung der Arbeitnehmer der privaten Busunternehmen stimmten vom 20. bis zum 25. Juni 95,2 Prozent für den Streik. — Am 8. Juli unterschreiben die Busunternehmer auf Grundlage eines Schiedsspruchs einen Tarifvertrag.11

KLINIKUM RECHTS DER ISAR

„Sitzwachen“ in Kliniken beobachten Patienten Tag und Nacht und übernehmen einfache pflege-
rische Tätigkeiten, betreuen aber oft viel mehr Patienten als zumutbar sind. Für einen Acht-Zehn-Stunden-Tag auch an Sonn- und Feiertagen tags wie nachts erhalten sie 64 DM. Am 5. Februar be-
ginnen die „Sitzwachen“ im Klinikum rechts der Isar ihren Streik.

LEHRERINNEN und LEHRER

Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) demonstriert mit etwa 5.000 Teilnehmern am 17. November auf dem Marienplatz für kürzere Arbeitszeiten, Einstellung arbeitsloser Lehrer und kleinere Klassen.12

(zuletzt geändert am 27.12.2020)


1 Der Gegenpol 192/1997.

2 Siehe „Luise in den Kaufhäusern“ von Roland Dörfler.

3 Stadtchronik, Stadtarchiv München. Vgl. Süddeutsche Zeitung 212/1979.

4 Mitteilungen der Humanistischen Union 2 vom Juli 1979, 30.

5 Hella Schlumberger, Türkenstraße. Vorstadt und Hinterhof. Eine Chronik erzählt, München 1998, 295; siehe „‘Der kleine Bobby’“ von Heinz Koderer.

6 wir. Information für Betriebsräte, Personalräte, Vertrauensleute, Jugendvertreter, hg. vom DGB-Kreis München 3/1979, 15.

7 Siehe „Skandalll !!“.

8 Vgl. Süddeutsche Zeitung 46/1979.

9 Vgl. Süddeutsche Zeitung 68/1979.

10 Vgl. Süddeutsche Zeitung 291/1979.

11 Siehe „Streik war erfolgreich“.

12 Vgl. Süddeutsche Zeitung 267/1979.