Flusslandschaft 1986
Zensur
„Recht der freien Meinungsäußerung – Jeder Bewohner Bayerns hat das Recht, seine Meinung durch Wort, Schrift, Druck, Bild oder in sonstiger Weise frei zu äußern. An diesem Recht darf ihn kein Arbeits- und Anstellungsvertrag hindern und niemand darf ihn benachteiligen, wenn er von diesem Recht Gebrauch macht.“ Artikel 110 der Bayerischen Verfassung
Am Abend des 22. Mai wartet die Fernsehnation auf den „Scheibenwischer“, den der Sender Freies Berlin (SFB) produziert. In Berlin sitzt im Verborgenen ein Redakteur, der schon in der Produk-
tionsphase alles, was geplant, geprobt und aufgezeichnet wird, sofort an den Münchner BR-Fern-
sehdirektor Helmut Oeller weitergibt. Diesmal will Lisa Fitz einen Sketsch von Werner Koczwara spielen, in dem sie mit einer Behörde telefoniert, der sie ihr Problem vorträgt: Den an seinen Rollstuhl gefesselten Großvater habe sie aus Versehen mehrere Stunden im von Tschernobyl radioaktiv kontaminierten Regen stehen lassen und jetzt wisse sie nicht, ob er im Falle seines Todes „normal“ beerdigt werden könne. Am Nachmittag schlägt Oeller Alarm. Er kritisiert die „Passagen über einen strahlenverseuchten Großvater“, eine „nicht auszuschließende Assoziation der Bundesrepublik Deutschland als KZ“, das „im Krieg vergossene Blut als Düngemittel schlesi-
schen Bodens“, die „Dekontaminierung des Papstes nach der Berührung der Erde“, sieht in der Sendung „nicht gemeinschaftsverträgliche Elemente“, wendet sich an den SFB und fordert die Streichung des Sketsches. Andererseits werde sich Bayern aus dem ARD-Programm ausschalten. Da er kein Gehör für seine Forderung nach einer ARD-weiten Absetzung der Folge findet, kommt es zu der denkwürdigen Entscheidung der Ausblendung, so dass dieser „Scheibenwischer“ in Bayern nicht zu empfangen ist.
„Für die ‚Kollektivseelsorge’ Oellers fand Hildebrandt in der Sendung sogleich ein anrührendes Bild – die ‚schwarze Anstaltsgouvernante’ halte den Landeskindern ‚sofort erschrocken die Augen zu, wenn sie ein paar nackte Hühner sehen’. Auch für Oellers Lese-Fähigkeiten sah er schwarz: Denn die ‚Assoziation der Bundesrepublik als KZ’ kann nur einem Legastheniker kommen. TV-
Text: ‚Ich wollte etwas Positives über mein Land sagen, da fragten sie mich, wer mich denn eigentlich bezahle. Da sagte ich, es habe Mängel. Aber es sei doch immerhin kein großes KZ,
wie manche behaupten.’“1
Dem „Scheibenwischer“ kann nichts besseres passieren. In München werden Video-Kassetten mit dem in der übrigen Bundesrepublik ausgestrahlten Programm von Hand zu Hand weitergereicht. Dieter Dorn bietet dem „Scheibenwischer“-Team die Kammerspiele an. Auch hier wird der Video gespielt. Die Münchner Abendzeitung druckt Auszüge aus dem Manuskript ab. Viele Bürgerinnen und Bürger protestieren: Sie wollen nicht wie unmündige Trottel von Herrn Oeller bevormundet werden. Der Münchner Verlag Knaur veröffentlicht „Zensur. Scheibenwischer. Vollständiger Text der Sendung und Dokumentation über die Reaktionen in der Öffentlichkeit“.2
Erstaunlich, wer aber alles in die Kammerspiele pilgert: „Doch statt dass die darauf Angesproche-
nen bittere Reaktion zeigten, rissen sich die so zu einer zweifelhaften Prominenz Gekürten um die Eintrittsbillets und schlugen sich auf die Schenkel, wenn sie sich als Spiegel- und Zerrbild einer Gesellschaftswirklichkeit auf der Bühne wiedererkannten. Manch Wirtschafts-Krimineller saß unten und jauchzte. Fast möchte man meinen, dass er es schade fand, wenn über seine Klüngel-Schieber-und-Schweinereien, über die diverse Gazetten vorher schon berichteten, keine scharfzün-
gigen Satirebeiträge verfasst wurden. Jede Überspitzung oder Übertreibung amüsierte königlich. – Das, was sich an normalen Theaterabenden von vornherein verbietet, war hier erlaubt, ja geradezu erwünscht. Ein großes Extempore etwa über den damaligen großen, bösen, schwarzbraunen Vor-
sitzenden der CSU, bitteschön. Ein improvisiertes Kabarett-Solo über irgend etwas, was am glei-
chen Tag als Schlagzeile irgendwo zu lesen war und sich nicht als Bauchleckerei der machthaben-
den CSU-Partei ummünzen ließ, bitte, bitte, bitte …“3
Und weiter gehts im Programm. Der Bayerische Rundfunk untersagt die Sendung von Christof Stählins Programm „Liebt denn keiner die Bundesrepublik?“ aus der Münchner Lach- und Schießgesellschaft wegen einer angeblich missverständlichen Äußerung.
„Der Spion – Zeitung für München protestierte in einem offenen Brief gegen die Absetzung einer Sendung anlässlich des 15-jährigen Bestehens von Trikont. Sie schreiben u.a.: ‚Hiermit fordern wir Sie auf, die ausgefallene Sendung über Trikont-Schallplatten umgehend auszustrahlen. Wir sind nicht mehr bereit auf politische Lieder zu verzichten. Sie sind ein wesentlicher Bestandteil der Gegenwartskultur und gehören genauso in das Programm des Bayerischen Rundfunks wie der Nährboden, die Politik von unten, der sie entstammen. Trikont ist ein Projekt von bundesweiter Bedeutung. Es transportiert die Inhalte der linken und alternativen Szene, die sich so verbreitet hat, dass sie nicht mehr zu leugnen ist.’“4
„WEIHNACHTSGEHEIMNIS IM BAYERISCHEN RUNDFUNK – Grundsatzdiskussion um Unterhaltungssendungen beginnt – REZEPTE GEGEN ‚ENTGLEISUNGEN’ GESUCHT – RUNDFUNKRAT DEBATTIERT DIE UMSTRITTENE ‚PINK’-SENDUNG MIT UDO LINDEN-
BERG – Das hat es bislang vermutlich noch nicht gegeben, dass sich die obersten Chefs einer Sendeanstalt öffentlich via Bildschirm bei den Fernsehzuschauern für den TV-Auftritt eines Rock-Sängers entschuldigen. Zu diesem ungewöhnlichen Schritt fühlten sich der Intendant des Bayerischen Rundfunks (BR), Reinhold Vöth, und BR-Fernsehdirektor Helmut Oeller kurz vor Weihnachten gedrängt, nachdem der Rock-Barde Udo Lindenberg in der vom BR live ausgestrahl-
ten TV-Jugendsendung ‚pink’ das Christkind unter anderem als ‚Sensationsfratz’ und ‚Rumpelstilz-
chen’ veralbert hatte. Vöth bedauerte ‚diese böse Verunglimpfung des Weihnachtsgeheimnisses’, und Oeller tat Abbitte für diese ‚unverhohlene Blasphemie’, über die sich ein Teil der Zuschauer nach der Fernsehsendung empört hatte, unter ihnen auch Staatsminister Edmund Stoiber aus der Bayerischen Staatskanzlei. Er hatte auch in seiner Eigenschaft als Mitglied des BR-Rundfunkrates einen geharnischten Brief an Intendant Vöth geschickt. ‚Pink’ ist inzwischen vom Programm abge-
setzt worden, dem verantwortlichen BR-Hauptabteilungsleiter Christof Schmid wurde ‚schärfste Missbilligung’ ausgesprochen, Redaktionsleiter Jochen Filser wurde von seinen Aufgaben suspen-
diert, und die ‚Pink’-Moderatorin Sabrina Lallinger ist ebenfalls abgelöst worden. Jetzt weitet sich der Krach … grundsätzliche Debatte über die Unterhaltungssendungen … Generaldiskussion über die BR-Unterhaltung … richtig reagiert … Lediglich von der SPD wurde von deren Rundfunkrats-
mitglied Jürgen Böddrich angemerkt, es habe früher schon ganz andere Sendungen im BR gege-
ben, wo derartig scharfe Reaktion angebracht gewesen wäre. ‚Entgleisung … Wir brauchen Ge-
schmacklosigkeiten und Banalitäten nicht hinzunehmen’, sagte Böddrich. Paul Rieger von der evangelischen Kirche sprach von einem ‚interessanten Tiefpunkt’ und ‚religiöser Beleidigung’ … Vertreter der Universitäten … hält er die vom BR produzierte Unterhaltung für gut, sie sei ‚bunt und ansehnlich’ …“5
1 Der Spiegel 22 vom 26. Mai 1986, 208.
2 Siehe „Maulkorb für Hildebrandt“ von Hartmut Goege.
3 Andreas F. Lechner, Ich löffle die Suppe aus. In: Friedrich Köllmayr/Edgar Liegl/Wolfgang Sréter (Hg.), Soblau. Kulturzustand München, München 1992, 148 f.
4 Der Stadtbote. Politischer Rundbrief für München 8 vom 15. November 1986, 3.
5 Süddeutsche Zeitung vom 31. Januar 1987.