Flusslandschaft 1987
Gewerkschaften/Arbeitswelt
- DGB
- Ärzte im Praktikum
- Arbeitsamt
- Bank- und Versicherungsangestellte
- Bundesbahn
- Bundespost
- Druckereien und Verlage
- Einzelhandel
- GymnasiallehrerInnen
- Krankenschwestern und Pflegepersonal
- Metallbetriebe
DGB
Das Motto zum Ersten Mai lautet „Arbeit schaffen, Umwelt schützen, Technik sozial gestalten“. Drei Demonstrationszüge führen von der Feldherrnhalle, vom Sendlinger-Tor-Platz und vom Deutschen Museum auf den Marienplatz. Hier sprechen DGB-Kreisvorsitzender Alois Mitter-
müller, Oberbürgermeister Georg Kronawitter und der 1. Vorsitzende der IG Metall, Franz Steinkühler. Für die Musik zuständig sind der DGB-Chor, die Stadt- und Bergknappenkapelle Penzberg, die Werkmusik des Bundesbahnausbesserungswerks Neuaubing und der Spielmanns- und Fanfarenzug der Kolpingsfamilie Ebersberg.1 Siehe auch „Alternative Szene“.
ÄRZTE IM PRAKTIKUM
„19. Januar: Rund 1.000 Medizinstudenten aus ganz Süddeutschland demonstrieren anlässlich
der Tarifverhandlungen zwischen der Gewerkschaft Öffentlicher Dienst, Transport und Verkehr (ÖTV) und Arbeitgeberverbänden gegen die neue Approbationsordnung für Ärzte. Die Studenten wenden sich vor allem gegen die ‚Arzt im Praktikum’-Regelung, wonach angehende Mediziner ab 1988 zwei Jahre lang für ein Bruttogehalt von 1.000 Mark in einem Praktikum arbeiten sollen. Eine Vertreterin der ÖTV-Hauptverwaltung unterstützt den Protest der Studenten und ihre Forderung nach einer Reform der Ärzteausbildung.“2
ARBEITSAMT
„In einem offenen Brief an mehrere Bundesminister und alle Münchner Bundestagsabgeordneten weist die Kreisverwaltung München der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr auf die Überlastung der Beschäftigten des Arbeitsamtes München hin. ,Daß die Aufgaben der Bun-
desanstalt für Arbeit in den vergangenen Jahren in schwindelerregendem Maße zugenommen ha-
ben’, so liest man in dem Schreiben, ,ist allgemein bekannt.‘ Ursache seien die ‚immens gestiege-
nen Arbeitslosenzahlen, ständige Gesetzesänderungen und immer neue Dienstanweisungen‘. – ,Sie haben es bislang versäumt’, so lesen die Briefempfänger weiter, ,dementsprechende Mittel für Per-
sonalzuwächse zur Verfügung zu stellen.‘ Die bislang bewilligten Gelder seien nur ,ein Tropfen auf den heißen Stein’ gewesen. In den vergangenen Jahren seien die ,Fallzahlen’ in München um weit mehr als hundert Prozent gestiegen, die Personalmehrung habe aber nur sechs Prozent betragen. – Schließlich geht die Gewerkschaft auf die ,erheblichen gesundheitlichen und sozialen Folgen’ bei den Beschäftigten des Münchner Arbeitsamtes ein. ,So liegt zum Beispiel die Ausfallquote durch Krankheit beim Arbeitsamt München mit 17,5 Arbeitstagen pro Jahr und Beschäftigten erheblich über vergleichbaren Werten’, heißt es.“3
BANK- und VERSICHERUNGSANGESTELLTE
„22. April: In ihrer Mittagspause versammeln sich um 12 Uhr 30 rund 200 Bank- und Versiche-
rungsangestellte auf dem Frauenplatz am Dom, um gegen die ‚unzureichenden Angebote’ der Arbeitgeber in der laufenden Tarifauseinandersetzung zu protestieren. Zu dieser Veranstaltung hatten die Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen sowie die Deutsche Angestelltengewerkschaft aufgerufen.“4
BUNDESBAHN
„20. November: Rund 200 Mitglieder der Gewerkschaft der Eisenbahner Deutschlands demon-
strieren vor und im Hauptbahnhof für eine bessere Umwelt, für Bahn und Bus und gegen die Vernichtung von Arbeitsplätzen bei der Bundesbahn.“5
BUNDESPOST
Auf dem Marienplatz veranstaltet am 22. August die Ortsverwaltung der Deutschen Postgewerk-
schaft (DPG) eine „DPG-Dult“. Über fünfzehntausend Bürgerinnen und Bürger werden dabei angesprochen und auf die Gefahren der geplanten Zerschlagung der Deutschen Bundespost hingewiesen. Bis 1990 übernimmt die Post annähernd alle Azubis. Ab 1990 sind Ausbildungsplätze und Übernahme stark rückläufig. Im Juni 1994 erfolgt die Privatisierung der bisherigen Deutschen Bundespost und ihre Aufteilung in drei selbständige Unternehmen: Postbank, Postdienst und Telekom.
Konsequenz: Ein Abbau von weiteren hundertzwanzigtausend Stellen (etwa zwanzig Prozent). Betriebsbedingte Kündigungen können die Gewerkschaften durch Tarifvertrag ausschließen. Der Stellenabbau findet über Abfindungen, Vorruhestand ab 55 und Einstellungsstop sowie durch Streichung von Ausbildungsplätzen und Nichtübernahme statt. Die Post AG steigert 1996 den Gewinn aus der gewöhnlichen Geschäftstätigkeit um vierundfünfzig Prozent auf 560 Millionen Mark und baut zweiundzwanzigtausend Stellen (7,2 Prozent der Arbeitsplätze) ab. Ende 1996 sind noch zweihundertfünfundachtzigtausend Mitarbeiter beschäftigt. 1997 sollen weitere fünfzehntausend Stellen „wegfallen“.
Bis zum Jahr 2.000 will die Post viertausend ihrer sechzehntausend Filialen schließen. Die Zerstückelung der Post hat einschneidende Veränderungen für die Beschäftigten, aber auch für die Postkunden zur Folge. Die Postgewerkschaft wandelt sich von einer Interessenvertretung des öffentlichen Dienstes hin zu einer von Arbeitnehmern in Unternehmen und Betrieben. Jetzt gilt es, neue Ziele anzupeilen: Mitbestimmung am Arbeitsplatz und Arbeitsprozess, Abschlüsse von arbeitsplatzorientierten und regionalisierten Tarifverträgen, Sicherung von Sozialleistungen und Sozialeinrichtungen. Ein privatkapitalistischer Betrieb kann nicht unter den Gestehungskosten wirtschaften; er muss Profit einbringen, sonst ist er nicht konkurrenzfähig. Deshalb wird eine privatisierte Post verlustbringende Postfilialen schließen und langfristig die Gebühren erhöhen müssen. Damit dient sie nicht mehr wie ursprünglich dem Gemeinwesen.6
„16. September: Mit einer Menschenkette um die Residenzpost demonstrieren rund 1.000 Postler für den Zusammenhalt von Post und Fernmeldewesen. Sie protestieren damit gegen die Stellung-
nahme einer Regierungskommission, die dem Bundeskanzler heute die Trennung der beiden Dienste und eine Teilprivatisierung des Fernmeldewesens empfohlen hat.“7
„18. Dezember: Mehr als 1.000 Auszubildende der Deutschen Bundespost protestieren vor
der Oberpostdirektion in der Arnulfstraße gegen die geplante Kürzung von insgesamt 900 Ausbildungsplätzen im gewerblich-technischen Bereich, durch die allein in Oberbayern und Schwaben 144 Plätze vernichtet würden.“8
DRUCKEREIEN und VERLAGE
„27. April: Mit spontanen Arbeitsniederlegungen in drei Betrieben und einer Demonstration
vor dem Hotel ‚Deutscher Kaiser’, dem Verhandlungsort der Tarifpartner, unterstreichen die Münchner IG-Druck-Mitglieder die Forderungen ihrer Gewerkschaft. Etwa 200 Mitglieder von Münchner Druckereien und Verlagen treffen sich vor dem Hotel an der Arnulfstraße.“9
„Der Drucker Dieter Schlichtling hatte sich im November 1981 geweigert, Krieg und deutschen Faschismus verherrlichende Werbezettel und Prospekte zu drucken. Deshalb wurde Schlichting fristlos gekündigt. Schlichting durchwanderte inzwischen zweimal sämtliche gerichtliche Instanzen bis zum Bundesarbeitsgericht in Kassel. Ende 1984 erhielt er dort in zweiter Instanz Recht. Der Firmenvertreter verwies nun auf ein ‚gestörtes Arbeitsverhältnis’ und stellte Antrag auf Auflösung des selben. Der Weg durch die Instanzen wiederholte sich. Im Mai 1987 war Schlichting erneut beim Bundesarbeitsgericht in Kassel angekommen. In dritter Instanz wurde dort zu Gunsten von Schlichting entschieden. Zwei Monate darauf, im August 1987, sprach die Druckerei Nord-Offset die nächste Kündigung aus – diesmal angeblich wegen innerbetrieblicher Angelegenheiten. Ende November entschied das Arbeitsgericht in dieser Sache gegen die Firma Nord-Offset. Schlichting muss also weiterbeschäftigt werden.“10
EINZELHANDEL
„7. Dezember: Vier Kaufhäuser in der Innenstadt öffnen heute statt um 9 Uhr erst eine halbe Stunde später. Mitglieder der Deutschen Angestellten-Gewerkschaft und der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen informieren mit Flugblättern über den Zweck der Aktion: ‚Wir, die Angestellten und Arbeiter dieses Hauses, befinden uns derzeit in einer Betriebsver-
sammlung und diskutieren über die Absicht der Bundesregierung, die Ladenöffnungszeiten an mindestens einem Tag der Woche bis 21 Uhr oder sogar bis 22 Uhr auszudehnen’. Dies bedeute eine Verschlechterung der Arbeitsbedingungen, gegen die man sich zur Wehr setze. Gefordert wird, das sehr strenge deutsche Ladenschlussgesetz müsse bleiben.“11
GYMNASIALLEHRERiNNEN
„14. Juli: Rund 100 Lehrer folgen einem Aufruf der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) zum Protest gegen die ‚vom Kultusministerium geplante Verlängerung der Arbeitszeit an bayerischen Gymnasien’. Vor der Feldherrnhalle entrollen die Lehrer Transparente, auf denen u.a. zu lesen ist: ‚Arbeitszeit verkürzen! – arbeitslose Lehrerinnen und Lehrer einstellen’. Der Protest richtet sich gegen eine Kürzung der Anzahl der Stunden, die den Lehrkräften wegen des besonderen Arbeitsaufwandes in der Kollegstufe bisher zur Verfügung standen.“12
KRANKENSCHWESTERN und PFLEGEPERSONAL
„7. November: Zwischen 2.000 (Münchner Merkur) und 5.000 (Abendzeitung) schätzt die Presse die Teilnehmerzahl an einer Demonstration von Krankenschwestern und Pflegepersonal. Den Verantwortlichen des Bundes und der Länder wird bei der Kundgebung auf dem Marienplatz vorgeworfen, dass sie das Älterwerden der Gesellschaft und damit die Zunahme der pflegeinten-
siven Fälle einfach durch Mehrarbeit des verfügbaren Personals auffangen wollten. Die Kritik an den Arbeitsbedingungen im medizinischen Bereich werde zwar als berechtigt akzeptiert, dennoch würde weiterhin versucht, die Kostenexplosion im Gesundheitswesen durch eine noch stärkere Benachteiligung der Beschäftigten zu dämpfen. In den Gesundheitsinstitutionen Münchens herrsche mittlerweile eine ‘unerträgliche Überbelastung’ der Arbeitskräfte, eine qualifizierte Ausbildung des Nachwuchses sei schon längst nicht mehr möglich. Gefordert wird eine grundsätz-
liche Reform des Gesundheitswesens mit mehr Stellen. neuen Arbeitszeitvorschriften sowie eine leistungsgerechtere Bezahlung des Personals.“13
METALLBETRIEBE
„16. Februar: In Neuperlach demonstrieren Metallarbeiter gegen die ‚unnütze Verschleppung
der Tarifverhandlungen zur Arbeitszeitregelung’ durch die Arbeitgeber. Die Vertreter der Arbeit-
nehmer aus den Münchner Metallbetrieben fordern ‚im Interesse des sozialen Friedens mit der IG Metall in zügige und konkrete Verhandlungen über die Arbeitszeitverkürzung einzutreten’. Die 35-Stunden-Woche mit vollem Lohnausgleich diene dem ‚Schutz der bestehenden und Schaffung neuer Arbeitsplätze bei fortschreitender Rationalisierung’.“14
Am 8. April legen 20.000 Münchner Metallarbeiter spontan die Arbeit nieder. Für Polizei und Staatsanwalt muss es dafür Rädelsführer geben. Zwei werden angezeigt.15
(zuletzt geändert am 7.5.2023)
1 9 Fotos: Erster Mai 1987, Standort: Archiv der Münchner Arbeiterbewegung, Mappe 29.
2 Stadtchronik, Stadtarchiv München; Süddeutsche Zeitung 15, 1, 4, 17.
3 Süddeutsche Zeitung 215 vom 19./20. September 1987, 25.
4 Stadtchronik, Stadtarchiv München; Süddeutsche Zeitung 93, 1.
5 Stadtchronik, Stadtarchiv München, Süddeutsche Zeitung 268, 1, 11.
6 21 Fotos: Protestaktion gegen die Postprivatisierung am 22. August 1987, Standort: Archiv der Münchner Arbeiterbewegung, Mappe 2, Bemerkungen: könnte auch 1980 stattgefunden haben, ist aber eher wahrscheinlich 1987.
7 Stadtchronik, Stadtarchiv München, Süddeutsche Zeitung 213, 1, 11.
8 Stadtchronik, Stadtarchiv München; Süddeutsche Zeitung 292, 1, 11.
9 Stadtchronik, Stadtarchiv München; Süddeutsche Zeitung 97, 1, 5.
10 Demokratischer Informationsdienst 67 vom Januar 1988, 43.
11 Stadtchronik, Stadtarchiv München; Süddeutsche Zeitung 282, 1, 5.
12 Stadtchronik, Stadtarchiv München; Süddeutsche Zeitung 159, 1, 4.
13 Stadtchronik, Stadtarchiv München; Süddeutsche Zeitung 258, 1, 17. Vgl. Münchner Lokalberichte 23 vom 12. November 1987, 1, 3.
14 Stadtchronik, Stadtarchiv München; Süddeutsche Zeitung 39, 1.
15 Siehe „Staatsanwälte sind auf dem Rückzug“ von Jürgen L. Groß.