Flusslandschaft 1988

Zensur

Joseph von Westphalen wohnt in München. Für das Zeitmagazin soll der Schriftsteller eine bissige Reportage über das österreichische Atomkraftwerk in Zwentendorf schreiben. Gesagt, getan. Er lernt die dortigen Betriebsingenieure kennen, konstatiert ihre Zwanghaftigkeit und ihre Neurosen und resümiert in seinem Artikel: „Ich könne als Laie die Gefahr von Atomkraftwerken nicht beur-
teilen, beurteilen aber könne ich, dass ich mein Leben nicht in der Hand autistisch Gestörter sehen wolle, damit sei der Störfall vorgegeben.“ Da beginnt der verantwortliche Redakteur Matthias Horx Westfahlens Text zu kürzen und „lesbarer“ zu machen. Am 29. April erscheint der Artikel. „Alles Bizarre, alle Schroffen waren entfernt. Eine mildtätige Ironie umgab den Bericht, über den noch Siemens-Leute würden ins Schmunzeln geraten können …“1

„Eine Zensur findet nicht statt.“ Steht im Grundgesetz. Es müsste eher heißen: „Eine offensichtli-
che Zensur, die jede/r als solche sofort erkennt, findet nicht statt. Andere restriktive Maßnahmen sind gang und gäbe.“2

„Rosa von Praunheim, 45, Filmemacher, hat wieder Ärger mit dem Bayerischen Rundfunk. Aus seinem Hörspiel ‚Adonis in New York’, das die Münchner am vergangenen Mittwoch zu später Stunde sendeten, wurde eine zart lautmalende Kußszene zwischen Rosa und seinem jungen grie-
chischen Freund herausgeschnitten. Dem Zensur-Eingriff hatte der Künstler notgedrungen zuge-
stimmt, um sein Anti-Aids-Stück vor der Absetzung zu retten. Praunheim ist durch einschlägige Erfahrungen gewitzt: 1973 schaltete sich das bayrische Fernsehen aus dem inzwischen berühmten Frühwerk des Künstlers ‚Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt’ aus. Jetzt will sich der Regisseur, der zur Zeit in New York lebt, endlich das bayrische Rundfunkge-
setz in die Neue Welt schicken lassen, um nachzuprüfen, ‚ob die romantischen Gefühle von Män-
nern’ in München auf dem Index stehen.“3

„Peter Gauweiler, Staatssekretär im Bayerischen Innenministerium, lieferte dem Bayerischen Rundfunk (BR) einen Anlass zur Selbstzensur. Aus der 149. Folge der ‚Lindenstraße‘ wurde die Passage herausgeschnitten: ‚Die Öffentlichkeit muss endlich mitkriegen, was hier bei uns passiert. Unter dem Deckmantel der Sauberkeit! Gauweiler & Co., das sind doch alles Faschisten.‘ Einer der Serienhelden, Benno, wurde wegen seiner Aidsinfizierung aus einer Behindertenwerkstatt entlas-
sen, was eine andere Beteiligte, Chris, zu dieser gauweilerkritischen Äußerung veranlasste. Der BR handelte im vorauseilenden Gehorsam und griff zur Schere.“4

In der Max-Emanuel-Brauerei in der Adalbertstraße 33 versammeln sich am 18. Oktober Bern-
hard Wette vom Verband deutscher Schriftsteller in Bayern (VdS), Franz W. Peter vom Börsen-
verein des deutschen Buchhandels
, Rechtsanwalt Wolfgang Bendler, Schriftsteller Joseph von Westphalen und Bernhard Bergmann von der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen (HBV). Unter der Überschrift „Wenn die Staatsgewalt liest …“ protestieren sie vor einem vollen Saal mit zweihundert Besuchern gegen Zensur im Buchhandel.

Siehe auch „Bürgerrechte“.

(zuletzt geändert am 17.8.2020)


1 Deutsche Volkszeitung/die tat 42 vom 21. Oktober 1988, Düsseldorf, 14.

2 Siehe „Buchhändlerpflichten“.

3 Der Spiegel 39 vom 26. September 1988, 269.

4 Deutsche Volkszeitung/die tat 42 vom 21. Oktober 1988, Düsseldorf, 8.