Flusslandschaft 1989

Gewerkschaften/Arbeitswelt

- Allgemeines
- DGB

- BMW
- Digital Equipment
- Druckindustrie
- Kindergärten
- Kranken- und Altenpflege
- Siemens
- Wamsler


ALLGEMEINES

1

„Wenn im Jahr 2000 das Bruttosozialprodukt höher ist als je zuvor – warum sollen dann die Ren-
ten nicht mehr zu bezahlen sein? Weil durch die Wegrationalisierung von Arbeitsplätzen immer weniger Arbeitende immer mehr produzieren und immer weniger Unternehmer immer mehr pro-
fitieren, aber von ihrem Riesenprofiten nichts an die Rentenkassen für die vielen abführen. Die Renten sind nur sicher, wenn wir die Großunternehmer zwingen, einen guten Teil ihrer Rationali-
sierungsprofite an unsere Rentenkassen abzuführen. Artur Troppmann, 8000 München“2

Siehe auch „Bundeswehr“, „Frauen“ und „Internationales“, hier: Südafrika.

DGB

Der DGB will den Ersten Mai attraktiver machen. Zum ersten Mal soll rund um das Münchner Rathaus ein Kultur- und Familienfest stattfinden. Es demonstrieren etwa 10.000 Menschen und es werden viele Flugblätter verteilt. Das Motto lautet „Für ein soziales Europa“.3


BMW

„BMW und Zulieferer: Das Band ist geknüpft – Erste Fäden für ein neues Kontaktnetz wurden
am 9. November in München geknüpft: Belegschaftsvertreter von 18 Zulieferbetrieben waren der Einladung des BMW-Gesamtbetriebsrats gefolgt. Thema Nummer eins: die wachsende Abhängig-
keit innerhalb der Branche. Drastische Beispiele für die Schikane durch die „Qualitätskontrolleure“ der Hersteller-Konzerne kamen auf den Tisch: ‚Vor jeder Inspektion muss drei Tage alles geputzt werden – und dann wird beim Rundgang moniert, wenn eine Kollegin ihr Ausgehkleid unterm Kittel trägt, weil sie mal tanzen will.’ Manfred Schoch, Gesamtbetriebsratsvorsitzender von BMW, wies auf die absehbaren Strukturveränderungen im Automobilbau hin. Beispielsweise das wach-
sende Entwicklungstempo, dessen Kosten zunehmend auf die Hauptzulieferer abgewälzt werden sollen. Die ihrerseits seien in Zukunft als ‚Systemführer’ für eigene Lieferantenketten gefragt, Preis- und Rationalisierungsdruck wächst auch für die Belegschaften an den BMW-Standorten. ‚Uns wird genauso mit Angeboten der Konkurrenz gedroht wie Euch’, so Hans Vilsmeier, Betriebs-
ratsvorsitzender von BMW Dingolfing. Bilanz des Treffens: Das Netz der Betriebsräte muss stabiler werden gerade im Hinblick auf die Tarifrunde. Manfred Schoch: ‚Ich betrachte die Tagung als Einstieg.’ Hannelore Messow“4

DIGITAL EQUIPMENT

In manchen Branchen finden sich vergleichsweise wenig Gewerkschaftsmitglieder. Bei Digital Equipment versuchen die Betriebsrätinnen neue Formen der Werbung.5

DRUCKINDUSTRIE

„18. Februar: Bevor heute im Hotel Vier Jahreszeiten eine weitere Schlichtungsrunde zwischen der Industriegewerkschaft Druck und Papier und dem Bundesverband Druck beginnt, demonstrieren Beschäftigte der Druckindustrie vor dem Hotel mit Plakaten und Transparenten. Sie weisen auf ihre wichtigsten Forderungen hin. Einige tragen Atemschutzmasken, um zu demonstrieren. dass viele von ihnen am Arbeitsplatz Gesundheitsgefährdungen ausgesetzt sind.“6

Am Abend des 9. August wird gestreikt. Die Produktion im Süddeutschen Verlag fällt beinahe ganz aus. Von der Süddeutschen Zeitung werden lediglich 11.000 Exemplare gedruckt, von der Abendzeitung keins.7

KINDERGÄRTEN

„12. Juni: Auf dem Odeonsplatz demonstrieren rund 600 Erzieherinnen für mehr Geld und Anerkennung. Gleichzeitig wird in der Residenz das 150jährige Bestehen des bayerischen Kindergartenwesens gefeiert. Die Demonstrantinnen verlangen eine Verbesserung der finanziellen Situation und eine Verkürzung des Praktikums.“8

„21. Oktober: Erzieherinnen. Eltern und Kinder protestieren mit einem Demonstrationszug von der Theresienwiese zum Marienplatz gegen die ‘miserablen Arbeitsbedingungen’ in den Kinder-
gärten. Die Angaben über die Teilnehmerzahlen schwanken zwischen 3.000 (Polizei) und 6.000 (Veranstalter). Delegationen aus ganz Bayern waren dem Aufruf zur Demonstration unter dem Motto ‘Genug gedient – wir sind bedient’ gefolgt. Gewerkschaftsvertreter verlangen bundesweit eine höhere Eingruppierung der Erzieherinnen. Zur Sprache kommt auch die Tatsache. dass allein in diesem Jahr 5.000 Kinder keinen Platz in den Tagesstätten fanden.“9

KRANKEN- und ALTENPFLEGE

„24. Februar: Vor dem Schwabinger Krankenhaus protestieren Pfleger, Krankenschwestern und Ärzte, die Angehörige der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV) sind, gegen die schlechte Bezahlung von Pflegekräften. Anlass für die Protestaktion, die unter dem Motto steht ‘Pflege in Not’, sind die Ende des Monats beginnenden Tarifverhandlungen für den Bereich der Kranken- und Altenpflege.“10

Im März demonstrieren 20.000 Pfleger, Krankenschwestern und Ärzte, unter ihnen auch viele Münchnerinnen und Münchner, in Dortmund.

„9. Mai: Das Krankenpflegepersonal demonstriert in zwei großen Protestzügen, von der Goethestraße und dem Geschwister-Scholl-Platz zum Marienplatz gegen den Pflegenotstand, dessen Ursache nach ihrer Ansicht die zu schlechte Bezahlung ist. Auf dem Marienplatz bezeich-
net Münchens ÖTV-Vorsitzender Helmut Schmid die Kundgebung als ‚letzte Warnung’ an die Arbeitgeber. Vor rund 10.000 Krankenpflegern erklärt Schmid, niemand brauche sich mehr zu wundern, wenn bald in den Kliniken gestreikt werde, ‚denn jetzt ist die Stunde der organisierten Arbeitnehmerschaft’. Lange genug sei nur auf den Pflegenotstand aufmerksam gemacht worden, jetzt werde gehandelt. Viele der Teilnehmer treten in weißen, blauen und grünen Krankenhaus-
kitteln an. Der Platz vor dem Rathaus ist übersät mit Transparenten, u.a. mit den Inschriften: ‚Heute Krankenschwester, morgen kranke Schwester’. ‚Vorsicht, hier wird gefährlich gepflegt’. ‚Stell Dir vor, Du wirst alt und keiner pflegt Dich’. ‚Lieber Pfleger 90 als den Jäger 90’ (dies soll
das moderne Jagdflugzeug der Bundeswehr werden). Nach Schmid tritt der Kabarettist Dieter Hildebrandt ans Mikrofon und erklärt, als Angehöriger einer Patientin habe er jahrelang ‚zähneknirschend’ die Zustände in Krankenhäusern beobachtet und dabei immer die Geduld bewundert. ‚mit der die Ärzte, Schwestern und Pfleger diese katastrophalen Arbeitsbedingungen ertragen’. Die Situation an den Kliniken und Altersheimen sei eine bereits bestehende Katastrophe, die man ‚gestern hätte lösen müssen’.“11

„1. Juni: Mit einer Mahnwache auf dem Marienplatz wirbt die Arbeitsgruppe der Münchner Pflegekräfte bei der Bevölkerung für eine Unterstützung ihrer Forderung nach höherer Besoldung in der Kranken- und Altenpflege.“12

Am 5. Oktober veranstaltet die ÖTV eine weitere Großdemonstration gegen den „Pflegenotstand“.

SIEMENS

„‚Lehrlinge aller Länder, vereinigt euch!’ riefen die Auszubildenden und Jugendvertreter von der Siemens-Tochter Trafo-Union aus Kirchheim nicht. Die Aktionärsversammlung der Siemens AG, die Ende März in der Münchener Olympiahalle stattfand, wäre dazu auch der denkbar ungünstig-
ste Ort gewesen. Die 30 jungen Leute demonstrierten gegen die geplante Streichung von 470 Arbeitsplätzen und sämtlichen 60 Lehrstellen in Kirchheim. Setzt sich die Konzernleitung durch, gibt’s vom nächsten Jahr an 20 Prozent weniger Metall-Lehrlinge in der Region, landen die derzeit Auszubildenden auf der Straße. Beschwichtigungsversuchen des Siemens-Vorstandsvorsitzenden Kaske (‚Ihr lernt doch fertig’) antwortet Jugendvertreter Michael Rieger (21): ‚Wir fordern die Übernahme der Lehrlinge und Fortsetzung der Ausbildung in Kirchheim über 1990 hinaus.’ Mit der Produktionsverlegung aus Bad Cannstatt sei Siemens vor drei Jahren eine ‚soziale Verpflich-
tung’ eingegangen. Inzwischen liebäugelt der Branchenriese mit weiterer Standortkonzentration: Ein Schwesterwerk der Trafo-Union steht in Nürnberg bereit, um die schwäbische Produktion zu übernehmen. Der Kirchheimer Betriebsrat fordert den Erhalt der Arbeitsplätze am Ort, notfalls durch Umrüstung auf andere Produkte. Die solidarische Aktion der Kirchheimer Auszubildenden vor der Olympiahalle endete jedoch abrupt, als die Siemens-Aktionäre drastisch von ihrem Haus-
recht Gebrauch machen ließen.“13 – Ende des Jahres heißt es: 600 Arbeitsplätze sollen bei der Siemens AG, die gerade für vier Milliarden Mark den englischen Telefon-Konzern Plessey gekauft hat, im Münchner Werk für Richtfunk- und Radartechnik wegfallen.

WAMSLER

Bei der Betriebsversammlung der Firma Wamsler Herd- und Ofen GmbH in der Landsberger-
straße 372 am 14. Dezember meint Vertrauensmann Lothar Steinert, dass die Geschäftsführung eine fast „menschenverachtende Haltung“ gezeigt hätte, als sie nach einer Bombendrohung Ende August das Email-Werk und die Stanzerei nicht geräumt und durchsucht hätte. Außerdem seien die Löhne zu niedrig. Daraufhin schmeißt die Geschäftsleitung Lothar wegen „ehrverletzender Äußerungen und Störung des Betriebsfriedens“ hinaus. In einem Protestflugblatt heißt es: „Während die Presse und ihre Hintermänner bei uns ganz scheinheilig die korrupten und menschenverachtenden Methoden der SED-Bonzen anprangern und bis zum Erbrechen nach Freiheit und freier Meinungsäußerung schreien, wird in ‚unserer Freiheit’ die Meinungsäußerung mit Hausverbot und Kündigungsdrohung belegt.“14


1 Foto: Michael Frank, Forum Wissenschaft 2/1989, Marburg, 25.

2 Metall. Zeitung der Industriegewerkschaft Metall 24 vom 1. Dezember 1989, 3.

3 Siehe „Aus einem Flugblatt der IG Druck und Papier“.

4 Metall. Zeitung der Industriegewerkschaft Metall 23 vom 17. November 1989, 21.

5 Siehe „Ungewöhnliche Betriebsversammlung: Moritaten im Theatersaal“.

6 Stadtchronik, Stadtarchiv München; Süddeutsche Zeitung 42, 1, 5.

7 Vgl. Münchner Lokalberichte 17 vom 22. August 1989, 1.

8 Stadtchronik, Stadtarchiv München; Süddeutsche Zeitung 134, 1, 4.

9 Stadtchronik, Stadtarchiv München; Süddeutsche Zeitung 244, 1, 4.

10 Stadtchronik, Stadtarchiv München; Süddeutsche Zeitung 47, 1, 17.

11 Stadtchronik, Stadtarchiv München; Süddeutsche Zeitung 110, 1, 17.

12 Stadtchronik, Stadtarchiv München; Süddeutsche Zeitung 124, 1, 17.

13 Metall. Zeitung der Industriegewerkschaft Metall 7 vom 7. April 1989, 18 f.

14 Münchner Lokalberichte 1 vom 10. Januar 1990, 1.