Flusslandschaft 1989

Lebenshaltungskosten

Seit dem 1. Januar gilt Norbert Blüms „Gesundheitsreform“, die mit „mehr Eigenbeteiligung und Kostenbewusstsein“ das öffentliche Gesundheitswesen vor dem „finanziellen Ruin“ retten will. Es trifft vor allem chronisch Kranke, Alte und Behinderte. Der Weg in die Zwei-Klassen-Medizin steht offen. Nur wer es sich leisten kann, bekommt Gesundheit erster Klasse: „‚Ich soll 3.000 Mark zuzahlen.’ — Wenn ich den Namen Blüm höre, krieg’ ich einen Kropf.’ Der Lehrschweißer Heinz Butzenberger (49) hat keine Probleme mit der Schilddrüse. Er ist Münchner. Und einen ‚Kropf’ bekommt der bayerische Mensch, wenn ihm vor Wut der Kragen zu platzen droht. Im letzten Juli war der Metaller zum jährlichen Kontrolltermin seiner Zähne angetreten und hatte erfahren, dass sein Gebiss wegen zweier Lücken dringend sanierungsbedürftig sei. Der Zahnarzt machte einen Behandlungsvorschlag ,Damals hätte ich knapp 2.500 Mark zuzahlen sollen. Aber das war’s mir wert, weil es eine dauerhafte Sache gewesen wäre.’ Seine Krankenkasse ließ ein Gutachten erstellen. ‚Wochenlang bin ich hinter dem Gutachter hergerannt, bis ich einen Termin bekam.’ Heinz Butzenberger beschlich das ungute Gefühl, auf die Rolle geschoben zu werden. Um keine Fristen zu versäumen, unterzog er sich der ansonsten in vier Portionen üblichen Parodontose-Behandlung auf einen Sitz. Doch umsonst. Der Gutachter hielt ein wackeliges Drahtgestell für ausreichend. Ein Obergutachter wurde bemüht. Inzwischen war’s Dezember, Blüms Reform beschlossen – und Maßstab für den Obergutachter. ‚Rausgekommen ist wieder nur so ein Provisorium. Dafür müsste ich 3.000 Mark zuzahlen, und ich kann’s wegschmeißen, wenn ein neuer Zahn wackelt.’ Für die ursprünglich vorgeschlagene Sanierung müsste Heinz Butzenberger heute 6.000 Mark berappen.“ 1


1 Metall. Zeitung der Industriegewerkschaft Metall 3 vom 10. Februar 1989, 12.