Materialien 1960

Gruppe tendenz

Als erste deutsche Kunstzeitschrift beginnt tendenzen mit einer dokumentarischen Veröffentli-
chungsreihe über deutsche Künstlergruppen. Geschichte, Pläne und Leistungen der einzelnen Vereinigungen sind mit wichtigen Belegen und in kritischer Freiheit des Kommentars dargestellt.

Seine unkonventionellen Interessen lassen tendenzen dabei vor allem nach solchen Zusammen-
schlüssen fragen, die man im Schatten des gegenwärtigen Meinungsbetriebes nicht oder wenig sieht.

Wir beginnen mit einer Dokumentation über die Gruppe tendenz, unseren Namensvetter im Singular. Unsere Veröffentlichung sei zugleich der Dank für die rege Mitarbeit einiger Gruppen-
mitglieder bei tendenzen, die ein Ausdruck verwandter künstlerischer und kritischer Anliegen ist.

Künstlergruppen vorzustellen, die sich ausstellungsmäßig noch nicht legitimiert haben, mag auf-
dringlich erscheinen. Im Falle tendenz sollte man Ausnahmerecht walten lassen. Fast sämtliche Mitglieder waren bei der vom Initiator der Gruppe, Carlo Schellemann, geleiteten Wanderausstel-
lung „Künstler gegen Atomkrieg“ dabei, und aus Erfahrungen mit dieser Schau bildete sich die Gruppe. Es zeigt sich, daß zeitnahe und zeitkritische Themen heute, von stilistisch sehr verschie-
denartigen Kräften gestaltet, im üblichen Kunst- und Ausstellungsbetrieb zu wenig durchdringen. tendenz entwarf den Plan einer von neuen Inhalten vereinigten Gruppe:

PROGRAMM

1. Die Gruppe TENDENZ ist bestrebt, die wesentlichen künstlerischen Aussagen über die Ten-
denzen unserer Zeit zu versammeln. Unter „Tendenz“ verstehen wir die künstlerische Aussage um eines Themas willen. Die Themen sind die Zustände dieser Welt. Unsere Aussagen sind Aussagen über diese Zustände.

2. Die Gruppe TENDENZ bildet sich aus dem Widerspruch gegen den bloßen Ästhetizismus innerhalb der modernen Kunst, hinter dem sich Ratlosigkeit und – schlimmer noch – Feigheit verbergen: der Verzicht, eine künstlerische Position zur Wirklichkeit im allgemeinen und zur gesellschaftlichen Gegenwart im besonderen zu beziehen.

3. Die Wirklichkeit, in der wir leben, interessiert uns. Die Gegenwart, in der wir schaffen, ist für uns künstlerisch hoch aktuell. Die Gesellschaft, der wir angehören, sehen wir mit Neugierde. Ihre Sorgen sind uns darstellungswürdig, ihre Hoffnungen regen uns an. Für uns gibt es keinen Dua-
lismus zwischen Kunst und Leben. Wir fühlen uns dieser Zeit in einem Sinne verbunden, der uns zu verbindlichen Aussagen über ihre Erscheinungen verpflichtet.

4. Wir bemühen uns um die Gestaltung der realen, positiven und negativen Perspektiven der Wirk-
lichkeit. Wir bekennen uns zur Anschauung Hegels: „Tendenz ist der entwickelbare Kern, der in einer Sache steckt.“ Daraus ergibt sich unser künstlerisches Verhältnis zur Realität. Unsere Gestal-
tung muß der Wirklichkeit genügend nahe sein, um die untersuchte Erscheinung konkret erkennen zu lassen. Sie darf ihr aber nicht so nahe sein, daß die Widergabe der Erscheinung die Auseinan-
dersetzung mit ihrem Wesen verdrängt. Wir kopieren nicht, wir deuten; wir nehmen nicht hin, sondern wir betonen und verwerfen.

5. Den Inhalt unserer Aussagen entnehmen wir der Wirklichkeit. Wir sind keine Konformisten, wir beziehen Stellung. Wir urteilen selbst und fügen uns keinen herkömmlichen Meinungen. Wir ent-
hüllen damit geschickt verborgene Tendenzen unserer Zeit. Das ist die moralische Seite der Kunst. Ihr fühlen wir uns verpflichtet.

6. Die Gruppe TENDENZ unterscheidet sich also von „Tendenzkunst“ im üblichen Sinn durch ihre Freiheit. Sie illustriert keine vorgefaßten Meinungen, sondern untersucht sie. Sie macht keine bildliche Werbung für eine bestimmte Weltanschauung. Jedes ihrer Mitglieder trifft seine Fest-
stellungen zur Zeit.

7. Die Gruppe TENDENZ ist keine Sekte mit bestimmten stilistischen Abzeichen. Es verbindet uns die Auffassung, daß der Inhalt das Rückgrat der künstlerischen Form bildet. Es verbindet uns das Engagement an den Zuständen dieser Zeit. Wir leben in ihr, nicht um sie zu verleugnen. Wir leben in ihr, um sie zu bewältigen.

Das ist unsere T E N D E N Z !

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Die üblichen Sorgen mit Gruppentaufen durchzumachen, blieb den Gründern nicht erspart. „Die Engagierten“, „Thema“, „Inhalt“ und anderes wurde als unverbindlich verworfen. Schließlich hatte man es nicht nötig, mit Rückziehern zu beginnen.

tendenz wurde mit dem Schock begrüßt, den es bei den meisten Bundesdeutschen sicherlich er-
regt, die sich dabei zunächst verschiedenartiger parteitreuer Arm- und Stilbewegungen erinnern. Doch die echten Schocks, gerade die heilsamen, kommen heute schon nicht mehr aus formaler Provokation. Warum leugnen, daß Inhalt fällig ist, wenn auch kein „tendenziöser“?

Folgende Künstler schlossen sich ungeachtet gängiger Vorurteile bisher der Gruppe an.

MITGLIEDER

Prof. Albert Birkle, Maler, geb. 1900, Salzburg
Siegfried Dorschel, Maler, geb. 1912, Essen
Bert Gerresheim, Maler, geb. 1935, Düsseldorf
Prof. Gerhard Gollwitzer, Graphiker, geb. 1906, Stuttgart
Hans Graef, Bildhauer, geb. 1909, Karlsruhe
Volkmar Gross, Maler, geb. 1927, Saarbrücken
Prof. Karl Hubbuch, Maler, geb. 1891, Karlsruhe
Hermann Landefeld, Graphiker, geb. 1926, Hagen
Caspar Thomas Lenk, Bildhauer, geb. 1933, Fellbach
Prof. Frans Masereel, Maler, geb. 1889, Nizza
Malte Satorius, Maler, z.Zt. Altea/Spanien
Carlo Schellemann, Maler, geb. 1921, Augsburg
Günter Strupp, Maler, geb. 1912, Augsburg
Dore Vax, Malerin, geb. 1908, Nürnberg

Die Gruppe plant, einmal jährlich Ausstellungen unter einem bestimmten Thema in einer größeren Stadt der Bundesrepublik durchzuführen. Im Herbst 1960 will sich tendenz unter dem sanften Ausstellungstitel „Die Welt, in der wir leben“ bei den Bundesbürgern einführen.


tendenzen 1 vom Februar 1960, 16.

Überraschung

Jahr: 1960
Bereich: Kunst/Kultur