Flusslandschaft 1990

Umwelt

Rezipientenforschung – eine Wissenschaft für sich. Wenn Medien Konflikte aufgreifen, die „in der ökologischen Luft liegen“, sehen Aufklärer eine Möglichkeit, dass Bewusstsein entsteht, aus dem Widerstand erwächst, andere Mitmenschen denken, dass es das Ziel ist, vor allem Überdruck aus dem siedendheißen Dampfkessel kollektiver Emotionen abzulassen, einige vermuten sogar kom-
plexere Strategien.1

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Im April 1986 haben sich sechzehn Umweltschutzgruppen, unter ihnen das Umweltinstitut Mün-
chen
, zur Bürgeraktion „Das bessere Müllkonzept“ zusammengeschlossen. Im Mai entstand der Verein „Das bessere Müllkonzept Bayern e.V.“, indem sich bis 1990 etwa achtzig Bürgerinitiativen und Umweltschutzgruppen organisiert haben. Im November 1989 beantragte der Verein die Zulas-
sung eines Volksbegehrens mit 34.000 Unterschriften, der am 18. Dezember von der bayrischen Staatsregierung wegen verfassungsrechtlicher Bedenken abgelehnt wurde. Das bayrische Verfas-
sungsgericht kippte nach wenigen Änderungen des Antrags die Ablehnung der Staatsregierung. Bis jetzt hat die bayrische Staatsregierung ja auf den Ausbau der Müllverbrennung gesetzt. Nun kann sich jede Frau und jeder Mann vom 15. bis zum 28. Juni 1990 durch Stimmabgabe für „das bessere Müllkonzept“ einsetzen. Gefordert wird:
◊ Ziel des Gesetzes ist es, die Spielräume, die der Bund dem Freistaat Bayern bei der Abfallentsor-
gung lässt, auszunutzen.
◊ Abfallvermeidung und Abfallverwertung wird bindendes Ziel bayrischer Abfallpolitik.
◊ Der Freistaat muss sich in allen seinen Bereichen selbst für die Abfallvermeidung einsetzen.
◊ Zuschüsse gibt es nicht für Müllverbrennungsanlagen, sondern nur für Vermeidung und Verwer-
tung.
◊ Die Zuständigkeit für die Abfallentsorgung geht auf die Gemeinden über; diese erhalten mehr Freiheiten bei der Gestaltung ihrer Satzungen.
◊ Die stoffliche Verwertung erhält Vorrang vor der Müllverbrennung.
◊ Für bestimmte Abfälle wie Papier, Glas, Metalle und Kompostierbares wird die getrennte Samm-
lung vorgeschrieben. Diese Abfälle dürfen nicht mehr in der Verbrennung oder auf der Deponie landen.
◊ Im Planungsverfahren für einzelne Anlagen und für die Aufstellung des Abfallentsorgungsplanes erhalten die BürgerInnen mehr Rechte.3

„Jetzt demonstrieren sie tatsächlich selber: ‘An der Spitze des Protestzuges demonstrierten der Münchner CSU-Vorsitzende Peter Gauweiler (links vorne), Bayerns Innenminister Edmund Stoi-
ber (rechts) und Barbara Schöne von der Bürgerinitiative Petuelring an Ort und Stelle …’ Wofür? Wogegen? Wiedervereinigung? Wir sind das Volk? Die Wohnungsnot? Umweltverschmutzung? Nein, oder für Letzteres doch, für Autoverkehr und Autoindustrie, für verbesserten Treibhausef-
fekt: ‘… dagegen, dass die rot-grüne Rathausmehrheit momentan nicht an einen Tunnelausbau des Mittleren Rings im Münchner Norden denkt. SZ, 25.5.1990’ Kein Wort der Waldheuchler gegen den Autowahn hier, sondern Ausbau – und heroische Schaukämpfe für den tropischen Regen-
wald.“4

Neben den Bürgerinitiativen tragen die GRÜNEN und der Unterbezirk der Münchner SPD das Volksbegehren für einen umweltverträglicheren Umgang mit dem Müll durch Müllvermeidung und Mülltrennung. Anlässlich des Volksbegehrens, zu dessen Unterstützung vom 15. bis 28. Juni alle Münchnerinnen und Münchner aufgerufen sind, zu unterschreiben, ist für Samstag, 23. Juni, um 11 Uhr eine Demonstration von der Theresienwiese zum Marienplatz geplant. „Trotz des Pro-
testes des Bayerischen Wissenschaftsministeriums findet die Abschluß-Kundgebung der Demon-
stration zum Volksbegehren ,Das bessere MüIlkonzept’ heute von 14 Uhr an auf dem Königsplatz statt. Kreisverwaltungsreferent Hans-Peter Uhl hat den Veranstaltern die Genehmigung erteilt, obwohl der Freistaat als Eigentümer die Nutzung untersagt hatte.“ Schließlich werden 30.000 Kundgebungsteilnehmer erwartet; da ist der Marienplatz zu klein. „Als ,geschichtslose Geschmack-
losigkeit’ bezeichnete Oberbürgermeister Georg Kronawitter die Stellungnahme des bayerischen Kultusministers, wonach die Kundgebung an ,die Zeit der Aufmärsche auf dem Münchner Königs-
platz’ und seine ,unheilvolle Tradition’ erinnern würde. Kronawitter begrüßte die Kundgebung und wies darauf hin, daß die Veranstalter vom Kreisverwaltungsreferat verpflichtet worden seien, den Rasen zu schonen und eventuelle Schäden auf eigene Kosten zu beheben. Das Wissenschaftsmini-
sterium will ‚angesichts des zeitlichen Zwanges‘ keine juristischen Schritte einleiten. Doch wenn die Stadt München weiterhin den Königsplatz als Ort für Großkundgebungen nutzen wolle, sollte sie, so das Ministerium, ,sinnvollerweise wieder die alten Betonplatten verlegen lassen. Wenigstens besteht offensichtlich für die Ritzenbiotope in den Ruinen der SS-Ehrentempel keine Gefahr. In diesem FaIl wäre die Stadt nämlich sofort eingeschritten.‘“5 Schließlich sind bei der Demonstration nur etwa Tausend Demonstrantinnen und Demonstranten anwesend.6 Die Veranstalter haben mit 30.000 Demonstranten gerechnet. – Mehr als die erforderlichen zehn Prozent aller bayrischen Wahlberechtigten tragen sich in die Listen des Volksbegehrens ein. Am 17. Februar 1991 wird zwi-
schen dem von CSU und SPD gemeinsam getragenen Abfallwirtschaftsgesetz und dem „besseren Müllkonzept“ in einer Wahl entschieden.

Autogeher Michael Hartmann beschließt nun auch, Straßen auf dem jeweils kürzesten Weg zu que-
ren. Mehrere Gerichtsverhandlungen bestärken ihn in seinen Aktionen gegen den Straßenverkehr. Ab Juni 1990 begleitet ihn Filmemacher Roland Schraut. Im August heben Hartmann und mehrere Studierende drei Autos, die vor der Technischen Universität auf dem Bürgersteig stehen, auf die Straße zurück. Ab September trifft sich Hartmann mit VertreterInnen des Jugendaktionsbündnis-
ses
, von greenpeace, Verkehrsclub Deutschland (VCD), AStA München und Umweltreferat. Von Oktober 1990 bis November 1991 geht Hartmann über Kreuzungen in der Diagonalen. Im Novem-
ber 1990 entsteht die Idee: „Mensch sollte etwa drei Meter hohe Bäumchen in Autoanhänger (ent-
sprechend umgerüstet) mit TÜV und Versicherung pflanzen und dann am Straßenrand regulär parken lassen.“ Die Idee nimmt das Aktionsforum Stadtverkehr auf. „Eineinhalb Jahre später hatten wir in München die erste Wanderbaumallee, bestehend aus zwanzig in großen Kübeln ge-
pflanzten Bäumchen.“7

Sieben Menschen gründen 1990 einen Verein mit dem Namen „München 2000 autofrei“. Nach-
dem nur wenig Zuspruch erfolgt, bemerken die Aktivisten, dass ein negativer Name nicht moti-
viert. 1995 nennen sie sich in Green City e.V. um und können 1997 stolz auf sechshundert Mitglie-
der verweisen.

Hinter einem Infostand der Aktion Pro Regenwald (Frohschammerstraße 14, 8000 München 40, Tel.: 359 86 50) an der Prinzregentenstraße befindet sich am 29. Juli ein Spruchband mit der Auf-
schrift „Deutsch-japanische Wirtschaftsmoral: Völkermord für Tropenholz in Sarawak!“ Am 22. Oktober findet auf dem Marienplatz eine Kundgebung der Aktion Pro Regenwald statt.8

Aus dem Schlußbericht der Enquete-Kommission „Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre“ im Bundestag geht hervor, dass nach neuen Klimamodellen sich die Erde mit 0,33 Grad Celsius pro Jahrzehnt dreimal so schnell erwärmen wird, wie es natürliche Ökosysteme grade noch verkraften könnten. Nach Auffassung der Klima-Enquete tragen zu diesem Temperaturanstieg mit rund 50 Prozent die Emissionen aus dem Energiebereich, mit 20 Prozent die Chemie und mit je 15 Prozent die Landwirtschaft und die Vernichtung der Regenwälder bei.

(zuletzt geändert am 19.12.2023)


1 Siehe „Zufälle“ von Gerhard Döring.

2 Münchner Stadtanzeiger vom 13.6.1990, 3.

3 Stadtratte 1/Juni 1990, 24.

4 Heinz Jacobi, Deutschdeutsch. Materialien gegen ein Volk. Das Anschlusslesebuch. Sonderband IV des Boten. Politisch-literarische Zeitschrift, München 1990, 295.

5 Süddeutsche Zeitung 142 vom 23./24. Juni 1990, 18.

6 Siehe „Volksentscheid im Wahlprüfungsausschuss“; Fotos: Stadtarchiv Standort ZB-Ereignisfotografie-Politik-Demonstrationen.

7 Michael Hartmann, Der Autogeher. AutoBiographie eines AutoGegners. März 1988 bis Juli 1997, München 1997, 33.

8 Fotos: Stadtarchiv Standort ZB-Ereignisfotografie-Politik-Demonstrationen.