Flusslandschaft 1991

Flüchtlinge

Die Revolutionären Zellen (RZ) – einige ihrer Mitglieder und Sympathisanten leben auch in München – nehmen vor allem die restriktive Flüchtlingspolitik von Staat und Behörden wahr und orientieren auf deren Sabotage. Sie schreiben: „Im Sommer waren es die Sozialverwaltungen der Städte, die aktiv als ‚kämpfende Verwaltungen’ das Instrumentarium zur Vertreibung der Roma erprobten. Streichung von Sozialhilfe, Zelt- und Containerlager, Naturalienzuweisung waren die Mittel, mit denen die ‚Zigeunerfrage’ sozial-technisch inszeniert wurde …, mit der verhetzte Bürger und bezahlte Schlägertrupps gegen die Roma mobilisiert wurden … Eine Linke, die ihre gesell-
schaftliche Bedeutungslosigkeit durchbrechen will, muss in einer umfassenden antirassistischen Mobilisierung den Widerstand von Flüchtlingen und Immigrantinnen aufgreifen und unterstützen … Die Verankerung antirassistischer Initiativen ist eine Voraussetzung für eine Widerstandsper-
spektive gegen das imperialistische Großdeutschland.“1 Von Verankerung kann keine Rede sein. Ganz im Gegenteil: Es gelingt revolutionären Antirassisten kaum, aus ihrer gesellschaftlichen Isolierung auszubrechen.

Im Herbst veröffentlicht die Bild-Zeitung eine Serie mit dem Titel „Die Asylanten“. Sie trägt damit wesentlich zur herrschenden Pogromstimmung bei. In einer Gaststätte in Taufkirchen, in der aus-
schließlich Flüchtlinge wohnen, bricht am 13. Dezember ein Brand aus – Ursache unklar.

„Man sollte die Protagonisten der Asyldiskussion auf der Bühne eines Schauspieltheaters diskutie-
ren lassen. Von Stoiber bis Cohn-Bendit. Von Kinkel bis Wedemeier. Von Kohl bis Bohl. Von Däub-
ler bis Gmelin. Etwa zwei Dutzend Männer und Frauen. Laut Regie hätten sie alle gleichzeitig zu sprechen. Mal hebt der eine die Stimme, mal die andere. Am Ende fiele der Vorhang. Heraus träte mit Narrenkappe Helmut le Chou und sagte: Alle klar? Das Publikum antwortete im Chor: Wir sind im BILD! – Versuchen wir’s ein letztes Mal: Stoiber etwa schlägt vor, das Grundrecht auf Asyl als Individualgrundrecht abzuschaffen. Es bliebe die institutionelle Garantie. Der Staat hätte das Recht, politisch Verfolgten Asyl zu gewähren, die politisch Verfolgten hätten nicht das Recht, die Schutzgewährung zu erzwingen. Es bliebe die Genfer Flüchtlingskonvention. Kaum jemand weiß, was durch sie normiert ist. Vor allem nicht Cohn-Bendit, der auf die Spiegel-Frage, was er mit einem Hungerflüchtling mache, ins Mikrophon trällert: ,Natürlich kann ich jemandem aus der Sahel-Zone nicht sagen: Junge, bei uns ist’s voll, tut mir leid … Schließlich hat die Bundesrepublik die Genfer Konvention für Flüchtlinge unterschrieben.’ (Spiegel Nr. 35/91). – In der Genfer Flüchtlingskonvention ist hauptsächlich zweierlei geregelt: die Mindestrechte, die aufgenommene politische Flüchtlinge erhalten, und zweitens das Verbot der Ausweisung oder Zurückweisung politischer Flüchtlinge (wortgleich jetzt in § 51 Abs. 1 AuslG). Die Begriffe des politisch Verfolgten nach Genfer Flüchtlingskonvention und Grundgesetz sind nahezu kongruent. Folglich, meint Stoiber (immer nur zum Beispiel), dürfe er an der Grenze alle diejenigen abweisen, die nicht politisch verfolgt seien. Dabei wird verschwiegen, dass nur etwa 20 Prozent aller Asylsuchenden sich an der Grenze melden. Der Rest ist erst mal ,drin’, mit oder ohne Visum, legal oder illegal. Übersehen wird, dass neben der Liquidierung des Artikels 16 Abs. 3 Satz 2 GG die Artikel 1 Abs. 1, Artikel 2 Abs. 2 und Artikel 3 Abs. 3 GG geändert werden müssten: Die Vorschriften verbieten die Ausweisung und Zurückweisung derjenigen nicht politisch Verfolgten, deren Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit im Falle der Zurückweisung bedroht wäre. Aber selbst das machte Herrn Stoiber noch nicht glücklich. Denn Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention verbietet es, einen Menschen auszuweisen oder an der Grenze zurückzuweisen, dem dadurch anderswo ,unmenschliche oder erniedrigende Strafe oder Behandlung’ droht. Lassen wir Herrn Stoiber. Es gibt die gemäßigten Reaktionäre …“2

Am 10. Oktober fordert die SPD-Bundestagsfraktion unter Hans-Jochen Vogel u.a.: „1. Es soll so-
fort ein Gesetzentwurf zur Lösung des Asyl- und Zuwanderungsproblems vorgelegt werden … 5.1 Schaffung einer gesetzlichen Grundlage für eine generelle erkennungsdienstliche Behandlung von Asylbewerbern; beschleunigter Ausbau des automatisierten Fingerabdrucksystems AFIS durch das BKA … 5.3 Engere Zusammenarbeit von Ausländerbehörden und Sozialämtern; insbesondere bun-
deseinheitlich vereinbart verstärkter Vorrang des Sachleistungsprinzips. 5.4 Erleichterte Voraus-
setzungen der Anordnung von Abschiebehaft für abgelehnte Asylbewerber … 5.9 Verstärkte Grenz-
kontrollen zu Nicht-EG-Staaten. 5.10 Zu prüfen ist darüber hinaus, inwieweit durch Änderung der §§ 2 und 9 AsylVfG die Möglichkeiten der Zurückweisung an der Grenze und Ablehnung von Asyl-
anträgen bei Voraufenthalt oder Durchreise des Asylbewerbers durch andere sichere Drittstaaten oder bei rechtsbeständig abgelehnten Asylanträgen in anderen Staaten erweitert werden können.“3

Einer spricht es aus, was der Stammtisch sagt: „Die wenigen tausend wirklich politisch Verfolgten sind in unserem Land willkommen und verdienen unsere Hilfe. Kein Verständnis finden bei vielen Kolleginnen und Kollegen die in die Hunderttausende gehenden Wirtschaftsflüchtlinge, die etwa 95 Prozent aller Ankömmlinge ausmachen. Wolfgang Beckmann, W-8000 München“4 Er vergisst, dass niemand gerne seine Heimat verlässt, dass es nicht „Hunderttausende“ sind, die nach Deutschland kommen, und woher weiß er, dass die „Wirtschaftsflüchtlinge“ 95 Prozent ausma-
chen. Und woher kommen diese Zahlen: „Etwa eine Million Wohnungen sind hierzulande von Ausländern und Asylanten bewohnt. Das ist eine Ursache der Fremdenfeindlichkeit, wenn man als Deutscher im eigenen Land keine Wohnung bekommt, weil Fremde drinsitzen. Andreas Winterles, W-8000 München“5


1 Zitiert in konkret 3/1992, 37.

2 Victor Pfaff: „Zwischen Scylla und Charybdis. Zur Asyldiskussion“ in: links. Sozialistische Zeitung 257 vom Oktober 1991, 5.

3 www.dipbt.bundestag.de/dip21/btd/12/012/1201296.pdf

4 Metall. Zeitung der Industriegewerkschaft Metall 19 vom 20. September 1991, 3.

5 Metall. Zeitung der Industriegewerkschaft Metall 24 vom 29. November 1991, 2.

Überraschung

Jahr: 1991
Bereich: Flüchtlinge

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