Flusslandschaft 1991
Religion
Friedrich Kardinal Wetter meint auf der Eröffnungskundgebung der ersten Woche für das Leben auf dem Odeonsplatz in München am 10. Juni 1991: „Wir demonstrieren für das Leben, vor allem für das Lebensrecht der ungeborenen Kinder … Wir wehren uns dagegen, dass in unserem Land von nicht wenigen die hunderttausendfache Abtreibung als die Normalität einer liberalen, huma-
nen und aufgeklärten Gesellschaft ausgegeben wird … Nehmen wir die Herausforderung unserer Zeit an. Überlassen wir das Feld der geistigen Auseinandersetzung nicht jenen, die den ungebore-
nen Kindern das Recht auf ihr Leben vorenthalten wollen. Durchbrechen wir die Mauern des Ver-
schweigens und des Verdrängens …“ Empörung und Proteste löst er damit aus, dass er die legale Abtreibung ungeborener Kinder mit dem Schießbefehl an der früheren DDR-Grenze gleichsetzt.
Im Juni veranstaltet ein Bündnis mehrerer Organisationen einen kirchenkritischen Monat.1
„Samstag, 29. Juni 1991, 10.00 Uhr Treffpunkt Marienplatz, Mariensäule – Heiterer Reliquienspa-
ziergang – Eine der eigenartigsten Varianten religiösen Verhaltens ist – nicht nur im Christentum – die Verehrung von Knöchelchen und anderen Erinnerungsstücken von Heiligen und Heiligem. Obwohl vieles verschollen ist, ist München noch heute voll davon! Hatte man doch seit dem Mit-
telalter keine Kosten und Mühen gescheut, sich auf dem internationalen Markt damit einzudecken. So in den Kreuzzügen in den Basaren des Orients, wo den verdutzten Kreuzrittern von geschickten arabischen Händlern unter der Ladentheke die tollsten, echtesten Reliquien angeboten wurden. So in Rom, wo der Handel mit Katakombenknochen eine der wenigen festen Einnahmequellen des Vatikans war – mit Echtheitszertifikat und passender Märtyrerlegende. Oder in der Zeit der Ge-
genreformation, als im 17. Jahrhundert die evangelisch gewordenen Länder nichts mehr mit den Reliquien anfangen konnten und sie meistbietend versteigerten: so kamen die Heiligen Benne oder Cosmas und Damian nach München, wo sie nie vorher gewesen waren. Sogar noch König Ludwig I. organisierte um 1840 für die neue Haidhauser Pfarrkirche eine der drei erhaltenen Kinnladen Jo-
hannes des Täufers, um dieses Arbeiterviertel wieder vom wahren Glauben zu überzeugen! Es wird also durchaus farbig und interessant, wenn wir uns auf einem gemütlichen und heiteren Reliqui-
enspaziergang ernsthafter mit den Hintergründen und Abgründen von Religion auseinanderset-
zen. Dauer (mit Mittagspause) bis ca. 15.00 Uhr. Leitung: Frieder Köllmayr, Historiker“2
1991 treten 15.075 Katholikinnen und Katholiken im Erzbistum München und Freising aus der Kirche aus.
(zuletzt geändert am 10.9.2025)
1 Siehe „Monat der Religionskritik“.
2 Freidenker Info Mai — August 1991, 9.