Flusslandschaft 1991
Stadtviertel
Der Münchner Norden erstickt im Berufsverkehr. „…Rund 2.000 Kolleginnen und Kollegen würden im Münchner BMW-Werk auf öffentliche Verkehrsmittel umsteigen, schätzt Betriebsratsmitglied Matthias Nebauer, wenn sie von den 700 Mark für eine Jahreskarte nur 500 berappen müssten. Gesamtbetriebsratsvorsitzender Manfred Schoch verhandelt zur Zeit darüber, dass sich das Autowerk und die Münchner Verkehrsbetriebe die ,restlichen’ 400 Mark teilen …“1 Seit 1. Juli 1992 zahlen BMW-Beschäftigte für eine Jahresnetzkarte im gesamten Tarifgebiet des MVV 875 Mark statt 1.750 Mark und für eine aufs Stadtgebiet begrenzte Jahresnetzkarte 531 Mark (statt 1.062 Mark). BMW zahlt zusätzlich einen Fahrtkostenzuschuss.
Am Samstag, 8. Juni, findet die feierliche Eröffnung des ersten Schwabinger selbstverwalteten Stadtteilzentrums, der Seidlvilla, statt.2 Das Haus ist voll. Schwabinger Anwohnerinnen und An-
wohner, Stadtteilpolitikerinnen und Stadtteilpolitiker, Kulturprominenz, Journalistinnen und Journalisten, ein buntes Gewimmel. Es gibt Ansprachen von Bürgermeister Ude und Kulturrefe-
rent Siegfried Hummel, Gari Gari und die Ballhouse Jazzband spielen. Der Verantwortliche dieser Web-Seite hat die Aufgabe übernommen, zur Eröffnung die Vor- und Frühgeschichte Schwabings, die Geschichte des Hauses sowie der Gruppen, die das Haus zu Anfang bevölkern, mit Installatio-
nen in allen Räumen der Seidlvilla zu thematisieren. Die Seidlvilla, erbaut 1904, war ursprünglich das repräsentative Anwesen einer begüterten Familie, in den 80er Jahren befand sich hier die Schwabinger Polizeiinspektion. Anwohner des Nikolaiplatzes berichten, dass sie in diesen Jahren immer wieder die Schreie verprügelter Verhafteter aus dem Keller der Seidlvilla gehört hätten. So versucht der Environment-Beauftragte, dies in einer Installation zu vergegenwärtigen. Er flexte vor dem Umbau des Gebäudes im Keller die stählerne Gittertür aus dem Türstock der Arrestzelle und schweißte zwei Querstreben an dessen Unterseite, damit die Zellentüre frei im Raum stehen kann. In den später „Carry-Brachvogel-Salon“ genannten Raum stellte er diese Türe, vor sie einen etwa einen Meter hohen, weißen Sockel, auf ihn eine breite flache Schüssel. In diese füllte er schwarzes Motoröl, das er vom letzten Ölwechsel seiner alten Karre aufgehoben hatte. An die Decke montier-
te er einen Punktstrahler und zudem in die Zimmerecken zwei Lautsprecher. Die Jalousien schlie-
ßen dicht, der Raum wird vollständig verdunkelt. Wer ihn betritt, löst mit einem Bewegungsmelder den Strahler aus, der senkrecht von oben in die Schüssel vor der Gefängnistüre hinein leuchtet, so-
wie ein Endlos-Tonband, das lautes, sich im Zwei-Sekunden-Takt wiederholendes, hartes Klopfen von den Zimmerecken her auslöst. — Hunderte Menschen befinden sich bei der Eröffnung im Gar-ten der Seidlvilla. Das Ritual des Durchschneidens eines Bandes, vorgenommen vom ranghöchsten Politiker, wird dadurch persifliert, dass etwa fünfzig Bänder den Weg ins Innere behindern, so dass mehrere Dutzend Mitmenschen, vor allem diejenigen, die sich über Jahre und Jahrzehnte für den Erhalt der Seidlvilla engagierten, unter fröhlichem Gelächter diese Bänder durchschneiden. Dann wird in den Räumen gefeiert. – Es gibt Besucherinnen der Eröffnungsfeier, die die Türe zum „Car-ry-Brachvogel-Salon“ sehr schnell von außen wieder schließen. Und so steht der Environment-Be-auftragte mitten im Getümmel der Eröffnung mit einer Bierflasche in der Hand. Da kommt der Vorsitzende des Seidlvilla-Vereins, Rudi Then Bergh auf ihn zu und meint, er möge doch bitte mit-kommen, zwei Beamte, die als Vertreter der Schwabinger Polizeiinspektion Gäste der Veranstal-tung seien, würden gerne den „Künstler“ sprechen. Im Gefolge Then Berghs sucht Gerstenberg in der Menge, bis er die zwei Herren in ihren schicken Ausgehuniformen findet. Diese stehen da und wundern sich kopfschüttelnd über das „schlimme Bild, das der Künstler von der Ordnungsmacht da zeichne“. Sehr schnell bildet sich ein interessiert zuhörender Kreis um die Polizeibeamten und den Provokateur. Dieser antwortet, er erinnere sich sehr wohl daran, wie er selbst einst brachial verhaftet worden sei, wie er verprügelte Anwohner in Haidhausen gesehen habe und wie er und viele andere in Wackersdorf entfesselte Gewaltorgien erleben mussten. Then-Bergh steht mit sar-donischem Grinsen dabei. Die beiden Beamten meinen, bei ihnen in der neuen Schwabinger Poli-zeiinspektion komme so etwas nicht vor, einer von ihnen zückt eine Visitenkarte, überreicht sie mit Schwung dem Künstler und lädt ihn zu einem Besuch ein. Der Einladung ist dieser aber nie gefolgt, dafür hat er die Gefängnistür später bei sich in seinem kleinen Garten aufgestellt und lässt Efeu an ihr hoch wachsen.
Die Bundesbahn will den schon in der NS-Zeit geplanten Rangierbahnhof zwischen Allach und der Lerchenau ausbauen. Gegen das „Schienenmonster“ formieren sich Bürgerinitiativen. Das Areal kann erst nach vielen Änderungen und Auflagen gebaut werden.
1 Sylvia Koppelberg: „Entspannt zur Arbeit“ In: Metall. Zeitung der Industriegewerkschaft Metall 2 vom 25. Januar 1991, 15.
2 Siehe dazu „Die Pyramide ins Rollen bringen“ und „Seidlvilla. Ein Stück Zukunft“.