Flusslandschaft 1998

Bürgerrechte

Am 3. Februar thematisieren etwa dreißig junge Leute den „großen Lauschangriff“ auf dem Mari-
enplatz.1

Am 6. Februar findet eine Demonstration gegen den „großen Lauschangriff“ statt.2

Zwei bedrohliche Trends werden deutlich: Die nach den schlimmen Erfahrungen der Nazizeit grundgesetzlich vorgeschriebene Trennung zwischen Geheimdiensten und Polizei wird durchlässig und weicht einer wachsenden informellen Verflechtung. Überwachung von Kommunikation auch ohne konkreten Tatverdacht wird immer leichter. Hartmut Wächtler beschreibt einen problemati-
schen Vorgang.3

Das Amtsgericht München verurteilt am 9. März einen Polizisten zu einer einjährigen Bewährungs-
strafe und 6.000 DM Geldstrafe wegen Körperverletzung im Amt. Das Gericht sieht es als erwiesen an, daß der Beamte während einer Demonstration dem Bundestagsabgeordneten Gerald Häfner (Bündnis 90/ DIE GRÜNEN) den Daumen ausgerenkt habe. Die Verteidigung des Polizisten kün-
digt Berufung an.

Unter anderen Gruppen ist in München aktiv: Mehr Demokratie e.V., Fritz-Berne-Straße 1, 81241 München, Tel.: 8 21 17 74, www.mehr-demokratie.de. Die Gruppe unterstützt den Volksentscheid vom 8. Februar; tatsächlich wird der Bayerische Senat, die II. Kammer im Staatsgefüge, abge-
schafft.

Nach seiner 61. Straftat wird am 6. Juli der vierzehnjährige türkische Jugendliche „Mehmet“ ver-
haftet. Dem Jungen und seinen Eltern droht wegen seiner kriminellen Karriere die Ausweisung aus Deutschland. An Münchner Stammtischen heißt es: „Kurzen Prozess, sofort Abschieben!“ In einem Eilverfahren entscheidet das Verwaltungsgericht München am 28. Juli, daß die geplante Auswei-
sung Mehmets und seiner Eltern nicht rechtswidrig ist. Nach weiteren juristischen Auseinander-
setzungen stoppt der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (VGH) am 4. September die Ausweisung Mehmets, wegen „erheblicher rechtlicher Bedenken“. Am 7. September lehnt der VGH einen Eil-
antrag auf eine Verlängerung der Aufenthaltsgenehmigung von Mehmet ab. Am 9. Oktober verur-
teilt ihn das Münchner Amtsgericht zu einem Jahr Jugendhaft ohne Bewährung. Mehmet muß mit einer Abschiebung, allerdings ohne seine Eltern, aus Deutschland rechnen. Die Staatsanwaltschaft und die Verteidiger legen am 15. Oktober Berufung gegen das Urteil ein, um eine „höhere Ahn-
dung“ zu erreichen. Am 20. Oktober erlaubt der VGH der Stadt München die Ausweisung von Mehmet.

„Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma reicht am 28. Juli gemeinsam mit seinem bayerischen Landesverband und zwei Auschwitz-Überlebenden Klage gegen die Sondererfassung von Sinti und Roma in bayerischen Behördendateien ein; die Kläger wenden sich gegen die im Freistaat übliche Praxis bei der erkennungsdienstlichen Behandlung Formulare mit der Rubrik ‚Personentyp Zigeu-
ner’ bzw. ‚Personentyp Sinti/Roma’ (internes Polizeikürzel: KP 8) zu verwenden; während andere Bundesländer sich im Vorjahr geeinigt hatten bisher gebräuchliche und als diskriminierend er-
kannte Kategorisierungen (wie: ‚negroid’, ‚indianid’, ‚vollbusig’, ‚flachbrüstig’, ‚schlesisch’, ‚orien-
talisch’, ‚Sinti/Roma’ etc.) nicht mehr zu gebrauchen bzw. zu ersetzen, verteidigt Bayerns Innen-
staatssekretär Hermann Regensburger (CSU) das Festhalten an der traditionellen Erfassungspra-
xis mit besonders hohen Fahndungserfolgen bayerischer Exekutivorgane; zudem beschwichtigt er, von der Klassifizierung ‚Zigeunertyp’ nähme man in Bayern Abstand – in Anbetracht des Schick-
sals von Sinti und Roma in der NS-Zeit; der Zentralverband der Sinti und Roma hingegen ist der Ansicht, dass ein Begriffsaustausch an der Praxis der Behörden nichts ändert, vielmehr sowohl Klischees gefördert als auch das Gebot der Gleichheit vor dem Gesetz verletzt würden.“4

Über zwanzig Anzeigen wegen Körperverletzung und Freiheitsberaubung durch die „Wiesnwache“ gehen am Ende von der Wiesn ein. Weitere Vorfälle lassen vermuten, dass es bei der Polizei nicht zum besten steht.5


1 Vgl. Freidenkerinfo. DFV Ortsgruppe München vom Mai – Juli 1998, 16.

2 Fotos: Stadtarchiv Standort ZB-Ereignisfotografie-Politik-Demonstrationen.

3 Siehe „Der Staatsanwalt hört mit – Lauschaktionen im Strafprozess“ von Hartmut Wächtler.

4 Robert Schlickewitz, Sinti, Roma und Bayern. Kleine Chronik Bayerns und seiner „Zigeuner“, 2008, www.sintiromabayern.de/chronik.pdf, 167.

5 Siehe Siegfried Krempel: „Münchner Polizeiskandale. Unheimliche Ordnungshüter in der heimlichen Hauptstadt“ in Bürgerrechte & Polizei/CILIP 64 (3/1999), www.cilip.de/ausgabe/64/muenchen.htm.