Flusslandschaft 2003
Rechtsextremismus
„Im Sicherheitsreport des Polizeipräsidiums München von 1998 wird auf S. 42 ausgeführt, dass ‚die Münchner Skinheadszene ca. 140 Personen’ umfaßt. Im Sicherheitsreport 1999 (S. 39) wird die Zahl der Skinheads mit 210 Personen angegeben. Obwohl im Jahr 1999 die als besonders gewalt-
tätig bekannte Gruppe ‚Skinheads-München-Süd’ zerschlagen wurde, stieg die Zahl der Skinheads bis 2002 (Sicherheitsreport 2002, S. 39) ‚auf 500 Personen’ an. Erstmals wurde auch dargelegt, dass von ‚ca. 45 gewaltbereiten bzw. gewalttätigen Personen auszugehen’ ist. Im aktuellen Sicher-
heitsreport 2003 (S. 39) sind die Zahlen nochmals nach oben korrigiert: ‚Die Skinheadszene im Zuständigkeitsbereich des Polizeipräsidiums umfasst ca. 550 Personen … innerhalb dieser Gruppe ist von ca. 60 gewaltbereiten bzw. gewalttätigen Personen auszugehen.’ Dies bedeutet, dass die Zahl der Skinheads im Zuständigkeitsbereich des Polizeipräsidiums München innerhalb von sechs Jahren von ca. 140 Personen auf ca. 550 Personen gestiegen ist.“1
In der Silvesternacht 2002/2003 gröhlen in einer Münchner U-Bahn-Station zwei Männer (19 und 21 Jahre alt) »Sieg Heil« und »Deutschland über alles«. Eine Frau spricht sie an. Die Situation es-
kaliert. Nun eilt ihr Ehemann, ein gebürtiger Kubaner, ihr zu Hilfe. Daraufhin schießt der 21jährige mit einer Gaspistole auf ihn.
Im Februar droht ein „Deutsches Anti-jüdisches Kampfbündnis“ in Pseudo-Anthrax-Briefen an die jüdische Gemeinde in München mit Anschlägen in München, Berlin und Frankfurt am Main.
Das Münchner Bündnis gegen Rassismus wird im März aufgelöst.
18. März: Das Bundesverfassungsgericht stellt das von Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat beantragte Verbotsverfahren gegen die NPD ein. Bundes- und Landesvorstände der Partei seien mit V-Leuten des Verfassungsschutzes durchsetzt, rund 30 von 200 Mitgliedern der NPD-Füh-
rungsebene ständen im Sold des Verfassungsschutzes. Das Gericht: „Staatliche Präsenz auf der Führungsebene einer Partei macht Einflussnahmen auf deren Willensbildung und Tätigkeit unver-
meidbar.“
Am 14. September beschimpfen angetrunkene Skins einen farbigen US-Amerikaner an der Münch-
ner Freiheit mit den Worten „Fucking Nigger“ und greifen ihn an.2
»AUFSTAND DER RICHTER. Antifaschismus. Wie der Widerstand gegen Nazis in Deutschland auszusehen hat, entscheiden immer noch die Männer in den langen Roben. Das Münchner Amts-
gericht verurteilte in der vergangenen Woche zwei Antifaschisten zu Geldstrafen, weil sie dazu aufgerufen hatten, sich gegen einen Aufmarsch von Neonazis zur Wehr zu setzen. Der Anmelder des betreffenden Nazi-Aufmarsches gegen die Wehrmachtsausstellung in München am 30. Novem-
ber 2002 war der Rechtsextremist Martin Wiese gewesen, bei dem Anfang September große Men-
gen Sprengstoff gefunden wurden. (Jungle World, 39 und 40/03) Nun wurde der Maschinen-
schlosser Christian Boissevain zu 30 Tagessätzen à 30 Euro verurteilt, weil er kopierte Stadtpläne, in denen die Route der Nazidemo verzeichnet war, verteilt hatte. Martin Löwenberg, der Mitglied im Landesvorstand der bayerischen Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN-BdA) ist und in der Nazizeit im Konzentrationslager inhaftiert war, wurde zu 15 Tagessätzen à 15 Euro verurteilt, weil er dazu aufgefordert hatte, sich in Richtung der Nazidemo zu bewegen. Nach der Urteilsverkündung kam es zu Tumulten im Gerichtssaal.«3
Am 9. November findet die Grundsteinlegung für das neue jüdische Zentrum am St. Jakobs-Platz statt. Anfang September wird bekannt, dass Neonazis einen Bombenanschlag auf die Grundsteinle-
gung planen. Siegfried Benker, der öffentlich dazu aufgefordert hat, sich den Neonazis in den Weg zu stellen, steht am 16. Oktober vor Gericht. In seiner Verteidigungsrede bezieht er sich auch auf neue Qualität rechtsextremer Strategien.4 Am 18. Oktober veranstaltet das Bündnis für Toleranz, Demokratie und Rechtsstaat eine Kundgebung mit etwa 1.000 Teilnehmern auf dem St. Jakobs-Platz. Es weist darauf hin, dass das neue jüdische Zentrum auch ein Signal für ein neues solidari-
sches Miteinander in München ist und dass für rechtsextremistische Propaganda und dass für Überfälle auf Andersdenkende und Ausländer null Toleranz vorhanden ist. Auf Schildern ist zu lesen: „Neonazis werden geschützt – Antifaschisten verurteilt“ und „Bunt statt Braun“
Für den versuchten Sprengstoffanschag anlässlich der Grundsteinlegung des neuen jüdischen Zentrums auf dem St. Jakobs-Platz werden fünf Rechtsextremisten – vier von ihnen sind noch minderjährig – zu Bewährungsstrafen zwischen 16 und 22 Monaten verurteilt. Am 3. Mai 2005 verurteilt ein anderer Staatsschutzsenat den Anführer der Gruppe, Martin Wiese, zu sieben Jahren, drei weitere Rechtsextreme erhalten Strafen zwischen zwei Jahren und drei Monaten und fünf Jahren neun Monaten.5
Norbert Reck spricht am 17. November in der Seidl-Villa zum Thema »Erinnerung im Land der Täter – Auschwitz-Gedenken zwischen Pädagogisierung und Spurensuche«.6
Anfang Dezember demonstrieren 28 Rechtsextreme auf dem Orleansplatz, beschützt von einem großen Polizeiaufgebot. Etwa 150 Gegendemonstranten beschimpfen die Neonazis.
Über weitere rechtsextreme Aktivitäten berichtet a.i.d.a., die antifaschistische Informations-, Dokumentations- und Archivstelle München unter https://www.aida-archiv.de/index.php/chronologie/chronik/.
(zuletzt geändert am 16.9.2024)
2 Siehe „München Schwabing: Der Naziterror geht weiter“ von Max Brym.
3 Jungle World 41 vom 1. Oktober 2003, 10.
4 Siehe „Prozesserklärung“ von Siegfried Benker.
5 Vgl. dazu auch Andrea Röpke/Andreas Speit (Hg.), Blut und Ehre. Geschichte und Gegenwart rechter Gewalt in Deutschland, Berlin 2013, 169 f.