Flusslandschaft 2003
Sicherheitskonferenz
Durch das transatlantische Bündnis geht ein Riss. US-Amerikaner wolle im Irak einen Regime-Change, einige Europäer, so die Franzosen und die Deutschen, nicht. Kommt es auf der soge-
nannten „Sicherheitskonferenz“ zum Showdown?1
2002 hat Oberbürgermeister Christian Ude das Verbot der Demonstrationen gegen die Siko befürwortet. Für den 7. und 8. Februar 2003 sind Demos unter erschwerten Auflagen erlaubt. Innenminister Beckstein erwartet „Gewaltexzesse“, sieht schon 1.000 gewaltbereite Störer in Aktion und läßt 3.500 Polizisten aus mehreren Bundesländern aufmarschieren.
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In der Woche vor der Siko soll auf den Infoscreen-Schirmen in den U-Bahnhöfen ein Cartoon des Schweden Riber Hansson kommentarlos zu sehen sein. Lediglich Logo und Web-Adresse von Handicap International, einer NGO, die sich weltweit um Landminenräumung und Kriegsopfer kümmert, würde angegeben werden. Die Firma Infoscreen lehnt die bezahlte Werbung ab; sie sei zu „politischer Neutralität“ verpflichtet.
Das Bündnis gegen die NATO-Sicherheitskonferenz gibt zur Mobilisierung eine Zeitung heraus. In ihr kritisiert Thomas Seibert, dass es genügend Linke gäbe, die einen „Krieg gegen den Terroris-
mus“ begrüßen.3
Am 6. und 7. Februar veranstaltet die Petra-Kelly-Stiftung eine Tagung mit dem Titel »Zivil Macht Europa«, am Wochenende des Nato-Treffens findet in München die Konferenz »Für Frieden und Gerechtigkeit – Nein zum Krieg« statt, die vor allem vom Münchner Friedensbündnis, von Attac und der DFG/VK organisiert wird.
Freitag, 7. Februar: Am Richard-Strauß-Brunnen in der Fußgängerzone steht ein mit einer schwarz-rot-goldenen Fahne geschmückter Info-Stand des „Bunker-Hilfswerks“. Männer im weißen Overall informieren darüber, dass die Millionenstadt nur 37.322 Bunkerplätze in 32 Bunkern zur Verfügung hat. Es sei davon auszugehen, dass die Sicherheitslage in deutschen Städten sich empfindlich verschlechtere, da deutsche Soldaten in verschiedenen Regionen der Welt im Einsatz seien und künftig sein werden. Man könne sich bei den Herren vom „Bunker-Hilfswerk“ einen Bunkerplatz reservieren. Manche Zeitgenossen fallen auf die Aktion herein und sichern sich bei Wolfram Kastner den rettenden Platz. „Nicht nur wegen der Temperaturen war’s zum Frösteln: wie selbstverständlich der Gedanke an Krieg schon geworden ist.“4
Drei Demonstrationen finden statt. Am Freitag, 7. Februar, befinden sich viertausend „Kriegsbe-
fürworter“ auf einer „Jubeldemo“. Tobias Pflüger von der Informationsstelle Militarisierung (IMI) in Tübingen wird nach seiner Rede5 verhaftet und mehrere Stunden lang festgehalten. Dass er Bundeswehrsoldaten zur Desertion aufforderte, die in einem Angriffskrieg eingesetzt werden, wird ihm als Aufruf zu Straftaten zur Last gelegt.6 Demonstrationsbeobachter vom Komitee für Demo-
kratie und Grundrechte schreiben einen Protestbrief an Oberbürgermeister Ude.7 Die Demonstra-
tion zieht vom Marienplatz über den Oberanger und die Sonnenstraße zum Stachus.
Polizei stürmt am 7. Februar gegen 22.50 Uhr das „Convergence Center“ im Kafe Marat in der Thalkirchner Straße 104, filmt alle Personen und Räumlichkeiten, kontrolliert 284 Personen und nimmt zweiundzwanzig fest. Die Ingewahrsamnahmen werden zum Teil im Nachhinein als rechts-
widrig erklärt. Die vielen Klagen haben zumindest soviel bewirkt, dass sich die Polizei bei rechtswi-
drigen Unterbindungsgewahrsam mittlerweile doch recht schwer tut.
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Am Samstag, 8. Februar, demonstrieren ab 10 Uhr Tausende von der Münchner Freiheit zum Ode-
onsplatz. Hier versammeln sich um 11 Uhr 14.000 bei der „braven“ Kundgebung des DGB, der SPD und der Kirchen. Viele von ihnen ziehen dann weiter zur „bösen“ Kundgebung des Bündnisses ge-
gen die NATO-Sicherheitskonferenz auf den Marienplatz.9 U.a. spricht Ernst Grube.10 Konstantin Wecker meint in seiner Rede: „Ich rufe die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr, die dem-
nächst ihren Dienst in Awacs-Flugzeugen tun müssen, dazu auf, diesen Kriegsdienst zu verweigern oder zu desertieren.“11 Tobias Pflüger gibt Thies Marsen ein Interview.12 Bei der Demonstration, die am Marienplatz beginnt, beteiligen sich etwa fünfundzwanzigtausend Menschen. Insgesamt werden 36 Personen festgenommen.13
Ude selbst hält auf der Siko eine Rede gegen die Beteiligung der Bundesrepublik am Irak-Krieg.14 Und Außenminister Joschka Fischer ruft dem mit versteinerter Miene dasitzenden amerikani-
schen Verteidigungsminister Donald Rumsfeld zu: „Sorry, I am not convinced.”
Unter der Obhut des Nord-Süd-Forums finden sich zahlreiche Jugendliche zusammen und be-
reiten als Gegenveranstaltung zur Siko den „Jugendfriedensgipfel“ vor. Er bietet Jugendlichen die Möglichkeit, sich mit der NATO und ihrer Politik auseinanderzusetzen.15
Brigadegeneeral a.D. Dr. Heinz Loquai spricht am 14. Februar im EineWeltHaus zum Thema »Balkan – Afghanistan – Irak. Krieg als Mittel der Politik«.16
Es sieht so aus, als ob die Bundesregierung an der Spitze der weltweiten Friedensbewegung mar-
schiert. Als am 15. Februar Millionen von Menschen weltweit für eine „friedliche Beilegung” des Irakkonfliktes demonstrieren, wird auf zahllosen Transparenten und Rednerbühnen an die deut-
sche Regierung appelliert, dem Druck Amerikas und Großbritanniens nicht nachzugeben und weiterhin gegenüber einem Krieg am Golf Stellung zu beziehen. Worin nun liegt der Unterschied zum vier Jahre zuvor geführten Kosovo-Krieg, als die selbe Bundesregierung an der Seite der USA unter Bruch des Völkerrechts mit ihrem Kampfjets serbische Fabriken, Wohnorte und Brücken bombardierte. Auch damals gab es keine Legitimierung des Krieges durch die UN, weil insbeson-
dere die Vetomacht Russland als traditioneller Verbündeter Serbiens ein erklärter Gegner eines Angriffs gegen Rest-Jugoslawien war. Es darf vermutet werden: Die Schwächung Serbiens vor der Haustüre der EU war Voraussetzung für eine weitere geopolitische und ökonomisch motivierte, langfristige Strategie. Die Regierung Saddam Husseins dagegen ist traditionell mit Frankreich und Deutschland liiert, mit dem nicht mehr relevanten „alten Europa“, wie es Rumsfeld bezeichnet.
Tobias Pflüger: »Die rot-grüne Bundesregierung ist die notwendige Voraussetzung für Deutschland gewesen, Kriege zu führen. Ohne Rot-Grün wäre die Militarisierung in der deutschen Bevölkerung so nicht durchsetzbar gewesen. Nur die mutmaßlichen Vaterlandsverräter konnten die Begründun-
gen für den Angriffskrieg gegen Jugoslawien glaubwürdig vertreten: dass es dort KZ gebe, dass Mi-
losevic wie Hitler und Stalin sei, dass es im Kosovo ein neues Auschwitz gebe. Da ist es eine Auf-
gabe der Friedensbewegung, nicht loyal gegenüber der rot-grünen Regierung zu sein. Wir müssen auch Gewerkschaftslinke dazu bringen, sich von dieser Loyalität zuverabschieden, ebenso kritische Kirchenleute und auch Kreise innerhalb des rot-grünen Milieus. Auch die müssen sich von der Vorstellung trennen, dass Rot-Grün die bessere Alternative ist. Meine These ist: Rot Grün macht die effektivere Kriegspolitik. Der zentrale Gegner der Friedensbewegung hier in Deutschland ist die deutsche Bundesregierung.«17
Im Oktober beschließen einige Friedensbewegte, nicht mehr nur gegen die Siko zu protestieren, sondern neue Wege zu gehen. Es entsteht die Projektgruppe Münchner Sicherheitskonferenz ver-
ändern e.V.18
Der Sprecher des Münchner „Bündnisses gegen die NATO-Sicherheitskonferenz“ 2002, Claus Schreer, soll wegen Aufruf zu und Durchführung einer verbotenen Versammlung zu 2.400 EUR Strafe verurteilt werden. Im November wird er freigesprochen.19
Am 3. Dezember urteilt das Landgericht München I, dass die vorbeugende Festnahme und zwei-
tägige Ingewahrsamnahnme eines schwarz gekleideten und mit einem schwarzen Stern verzier-
ten Autonomen aus Göttingen am 7. Februar im Kafe Marat unverhältnismäßig gewesen sei.
(zuletzt geändert am 16.9.2024)
1 Siehe Thies Marsen, Das große Wer mit Wem, in: Jungle World 7 vom 5. Februar 2003, 8, https://www.google.com/search?client=firefox-b-d&q=Thies+Marsen+%22Das+gro%C3%9Fe+Wer+mit+Wem%22.
2 Cartoon: Riber/Minetoons — Handicap International
3 Siehe „So viel Untergang war nie“ von Thomas Seibert.
4 Süddeutsche Zeitung 32 vom 8./9. Februar 2003, 52.
5 Siehe die Rede von Tobias Pflüger „… weder eine Weltmacht USA, noch eine Weltmacht Europäische Union, und schon gar keine Weltmacht Deutschland!“ in www.imi-online.de/2003/02/13/weder-eine-weltmacht/.
6 Siehe „Repression nach angeblichem Aufruf zur Desertion“.
7 Siehe das Protestschreiben in www.imi-online.de/2003/02/15/brief-an-oberbuerger/.
8 Flugblattsammlung, Archiv der Münchner Arbeiterbewegung
9 Siehe
- „Die Guten und die Bösen?!“,
- „Proteste“ von Sarah Seeßlen,
- „Hochamt der Friedensbewegten“ von Friedrich C. Burschel,
- Bilder von der „antisiko-demo“ von Andrea Naica-Loebell und
- Fotos: Proteste gegen die Siko, „Stoppt den globalen Krieg der Nato-Staaten“ – Demo gegen Sicherheitskonferenz und Krieg am 8. Februar 2003, Standort: www.arbeiterfotografie.com/galerie/reportage/index.html.
10 Siehe die Rede von Ernst Grube in www.imi-online.de/2003/03/02/rede-fuer-die-anti-k/.
11 www.imi-online.de/2003/02/12/das-ist-ein-angriffs/
12 Siehe www.jungle-world.com/artikel/2003/04/9875.html.
13 Siehe Stefanie Kron, Der feine Unterschied, in. Jungle World 8 vom 12. Februar 2003, 6, https://www.jungle.world/artikel/2003/07/der-feine-unterschied.
14 Siehe „Die Fragen, die der Irakkrieg aufgeworfen hat, dürfen nicht unter den Teppich gekehrt werden“ von Christian Ude; weitere Reden findest Du auf www.securityconference.de.
15 Siehe www.nordsuedforum.de.
16 Siehe http://www.gegenentwurf-muenchen.de/lobafir.htm.
17 Thies Marsen im Gespräch mit Tobias Pflüger, Jungle World 5 vom 22. Januar 2003, 3.
18 Siehe www.mskveraendern.de.
19 Siehe die Verteidigungsrede von Claus Schreer sowie Pressestimmen nach dem Freispruch in www.imi-online.de/2003/11/06/prozesserklaerung-vo/.