Flusslandschaft 2003

Sicherheitskonferenz

2002 hat Oberbürgermeister Christian Ude das Verbot der Demonstrationen gegen die so ge-
nannte „Sicherheitskonferenz“ befürwortet. Für den 7. und 8. Februar 2003 sind Demos unter erschwerten Auflagen erlaubt. Innenminuister Beckstein erwartet „Gewaltexzesse“, sieht schon 1.000 gewaltbereite Störer in Aktion und läßt 3.500 Polizisten aus mehreren Bundesländern aufmarschieren.

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In der Woche vor der Siko soll auf den Infoscreen-Schirmen in den U-Bahnhöfen ein Cartoon des Schweden Riber Hansson kommentarlos zu sehen sein. Lediglich Logo und Web-Adresse von Handicap International, einer NGO, die sich weltweit um Landminenräumung und Kriegsopfer kümmert, würde angegeben werden. Die Firma Infoscreen lehnt die bezahlte Werbung ab; sie sei zu „politischer Neutralität“ verpflichtet.

Freitag, 7. Februar: Am Richard-Strauß-Brunnen n der Fußgängerzone steht ein mit einer schwarz-rot-goldenen Fahne geschmückter Info-Stand des „Bunker-Hilfswerks“. Männer im weißen Overall informieren darüber, dass die Millionenstadt nur 37.322 Bunkerplätze in 32 Bunkern zur Verfü-
gung hat. Es sei davon auszugehen, dass die Sicherheitslage in deutschen Städten sich empfindlich verschlechtere, da deutsche Soldaten in verschiedenen Regionen der Welt im Einsatz seien und künftig sein werden. Man könne sich bei den Herren vom „Bunker-Hilfswerk“ einen Bunkerplatz reservieren. Manche Zeitgenossen fallen auf die Aktion herein und sichern sich bei Wolfram Kast-
ner den rettenden Platz. „Nicht nur wegen der Temperaturen war’s zum Frösteln: wie selbstver-
ständlich der Gedanke an Krieg schon geworden ist.“2

Drei Demonstrationen finden statt. Am Freitag, 7. Februar, befinden sich viertausend „Kriegsbe-
fürworter“ auf einer „Jubeldemo“. Tobias Pflüger von der Informationsstelle Militarisierung (IMI) in Tübingen wird nach seiner Rede3 verhaftet und mehrere Stunden lang festgehalten. Dass er Bundeswehrsoldaten zur Desertion aufforderte, die in einem Angriffskrieg eingesetzt werden, wird ihm als Aufruf zu Straftaten zur Last gelegt.4 Demonstrationsbeobachter vom Komitee für Demo-
kratie und Grundrechte
schreiben einen Protestbrief an Oberbürgermeister Ude.5 Die Demonstra-
tion zieht vom Marienplatz über den Oberanger und die Sonnenstraße zum Stachus.

Polizei stürmt am 7. Februar gegen 22.50 Uhr das „Convergence Center“ im Kafe Marat in der Thalkirchner Straße 104, filmt alle Personen und Räumlichkeiten, kontrolliert 284 Personen und nimmt zweiundzwanzig fest. Die Ingewahrsamnahmen werden zum Teil im Nachhinein als rechts-
widrig erklärt. Die vielen Klagen haben zumindest soviel bewirkt, dass sich die Polizei bei rechtswi-
drigen Unterbindungsgewahrsam mittlerweile doch recht schwer tut.

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Am Samstag, 8. Februar, demonstrieren ab 10 Uhr Tausende von der Münchner Freiheit zum Ode-
onsplatz. Hier versammeln sich um 11 Uhr 14.000 bei der „braven“ Kundgebung des DGB, der SPD und der Kirchen. Viele von ihnen ziehen dann weiter zur „bösen“ Kundgebung des Bündnisses ge-
gen die NATO-Sicherheitskonferenz
auf den Marienplatz.7 U.a. spricht Ernst Grube.8 Konstantin Wecker meint in seiner Rede: „Ich rufe die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr, die dem-
nächst ihren Dienst in Awacs-Flugzeugen tun müssen, dazu auf, diesen Kriegsdienst zu verweigern oder zu desertieren.“9 Tobias Pflüger gibt Thies Marsen ein Interview.10 Bei der Demonstration, die am Marienplatz beginnt, beteiligen sich etwa fünfundzwanzigtausend Menschen. Insgesamt werden 36 Personen festgenommen.

Ude selbst hält auf der „Sicherheitskonferenz“ eine Rede gegen die Beteiligung der Bundesrepublik am Irak-Krieg.11 Und Außenminister Joschka Fischer ruft dem mit versteinerter Miene dasitzen-
den amerikanischen Verteidigungsminister Donald Rumsfeld zu: „Sorry, I am not convinced.”

Unter der Obhut des Nord-Süd-Forums finden sich zahlreiche Jugendliche zusammen und be-
reiten als Gegenveranstaltung zur NATO-Sicherheitskonferenz den „Jugendfriedensgipfel“ vor. Er bietet Jugendlichen die Möglichkeit, sich mit der NATO und ihrer Politik auseinanderzusetzen.12

Es sieht so aus, als ob die Bundesregierung an der Spitze der weltweiten Friedensbewegung mar-
schiert. Als am 15. Februar Millionen von Menschen weltweit für eine „friedliche Beilegung” des Irakkonfliktes demonstrieren, wird auf zahllosen Transparenten und Rednerbühnen an die deut-
sche Regierung appelliert, dem Druck Amerikas und Großbritanniens nicht nachzugeben und weiterhin gegenüber einem Krieg am Golf Stellung zu beziehen. Worin nun liegt der Unterschied zum vier Jahre zuvor geführten Kosovo-Krieg, als die selbe Bundesregierung an der Seite der USA unter Bruch des Völkerrechts mit ihrem Kampfjets serbische Fabriken, Wohnorte und Brücken bombardierte. Auch damals gab es keine Legitimierung des Krieges durch die UN, weil insbeson-
dere die Vetomacht Russland als traditioneller Verbündeter Serbiens ein erklärter Gegner eines Angriffs gegen Rest-Jugoslawien war. Es darf vermutet werden: Die Schwächung Serbiens vor der Haustüre der EU war Voraussetzung für eine weitere geopolitische und ökonomisch motivierte, langfristige Strategie. Die Regierung Saddam Husseins dagegen ist traditionell mit Frankreich und Deutschland liiert, mit dem nicht mehr relevanten „alten Europa“, wie es Rumsfeld bezeichnet.

Im Oktober beschließen einige Friedensbewegte, nicht mehr nur gegen die SiKo zu protestieren, sondern neue Wege zu gehen. Es entsteht die Projektgruppe Münchner Sicherheitskonferenz ver-
ändern
e.V.13

Der Sprecher des Münchner „Bündnisses gegen die NATO-Sicherheitskonferenz“ 2002, Claus Schreer, soll wegen Aufruf zu und Durchführung einer verbotenen Versammlung zu 2.400 EUR Strafe verurteilt werden. Im November wird er freigesprochen.14

Am 3. Dezember urteilt das Landgericht München I, dass die vorbeugende Festnahme und zwei-
tägige Ingewahrsamnahnme eines schwarz gekleideten und mit einem schwarzen Stern verzier-
ten Autonomen aus Göttingen am 7. Februar im Kafe Marat unverhältnismäßig gewesen sei.

(zuletzt geändert am 16.3.2020)


1 Cartoon: Riber/Minetoons — Handicap International

2 Süddeutsche Zeitung 32 vom 8./9. Februar 2003, 52.

3 Siehe die Rede von Tobias Pflüger „… weder eine Weltmacht USA, noch eine Weltmacht Europäische Union, und schon gar keine Weltmacht Deutschland!“ in www.imi-online.de/2003/02/13/weder-eine-weltmacht/.

4 Siehe „Repression nach angeblichem Aufruf zur Desertion“.

5 Siehe das Protestschreiben in www.imi-online.de/2003/02/15/brief-an-oberbuerger/.

6 Flugblattsammlung, Archiv der Münchner Arbeiterbewegung

7 Siehe „Die Guten und die Bösen?!“, „Proteste“ von Sarah Seeßlen, „Hochamt der Friedensbewegten“ von Friedrich C. Burschel und Bilder von der „antisiko-demo“ von Andrea Naica-Loebell. Fotos: Proteste gegen die Siko, „Stoppt den globalen Krieg der Nato-Staaten“ – Demo gegen Sicherheitskonferenz und Krieg am 8. Februar 2003, Standort: www.arbeiterfotografie.com/galerie/reportage/index.html.

8 Siehe die Rede von Ernst Grube in www.imi-online.de/2003/03/02/rede-fuer-die-anti-k/.

9 www.imi-online.de/2003/02/12/das-ist-ein-angriffs/

10 Siehe www.jungle-world.com/artikel/2003/04/9875.html.

11 Siehe „Die Fragen, die der Irakkrieg aufgeworfen hat, dürfen nicht unter den Teppich gekehrt werden“ von Christian Ude; weitere Reden findest Du auf www.securityconference.de.

12 Siehe www.nordsuedforum.de.

13 Siehe www.mskveraendern.de.

14 Siehe die Verteidigungsrede von Claus Schreer sowie Pressestimmen nach dem Freispruch in www.imi-online.de/2003/11/06/prozesserklaerung-vo/.