Flusslandschaft 2009

Lebensart

Am 1. Mai zeigt sich wieder, warum München keine Weltstadt ist, schon gar keine mit Herz, sondern eine vermuffte Ansiedelung zipfelbemützter Gartenzwerge.1

Die Privatisierung des öffentlichen Raums bewirkt vor allem die Entsolidarisierung der Menschen. Und dann gilt: Allein – machen sie dich ein: Die Urbanauten weisen auf Defizite im öffentlichen Raum mit modernen Protestmethoden hin. Sie propagieren ein „Recht auf Stadt“ – Der Anspruch auf autonomes Leben in Freiräumen, auf unabhängige Selbstverwirklichung gegen Verwertungs- und Standortlogik, auf Visionen, Gegenentwürfe, Utopien existiert in München seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Absurd wird es, wenn das Unterlaufen der Standortlogik den Stand-
ortfaktor und seine Marktlogik attraktiver macht, wenn Fremdenverkehrswerbung Touristen in die Leopoldstraße lockt, die dort hilflos herumirrend Schwabinger Boheme in Telefonläden und Cof-
fee-Aufbrüh-Etablissements suchen. – Ursprünglich ging es in einer tristen Stadtgesellschaft, die sich in der Bereitstellung fetischisierter Warenwelt und im dort kontinuierlich inszenierten Spekta-
kel ein Ventil schuf, den Situationisten in den späten 50er und den gesamten 60er Jahren darum, durch Umherschweifen und Zweckentfremdungen freier, autonomer und unabhängiger zu werden. Die Frage stellt sich, inwieweit heutige Zustände, in denen atomisierte Individuen ihre Autonomie ununterbrochen realisieren müssen, um sich täglich reproduzieren zu können, und gleichzeitig sich ununterbrochen ihre Unabhängigkeit versichern müssen, nicht völlig neue Gegenstrategien verlan-
gen. Die Frage stellt sich, ob heutzutage die Suche nach Freiräumen, Gegenentwürfen und Utopien nicht eher als kreative Duftmarke für den höchsten Ausdruck der Marktlogik zu gelten hat, ob Wi-
derständigkeit und Subkultur als Standortfaktor bewertet werden und sich deshalb auch wohlwol-
lender Subsistenz durch politische Eliten erfreuen können. Dann besäße außerdem die Behaup-
tung, unsere Freiräume seien politisch erkämpft worden und würden mit politischem Druck ver-
teidigt und erweitert, auch eine Portion Selbsttäuschung. Trotzdem: Der Sprecher der Urbanauten riskiert eine Verhaftung. Mitte November hängen 257 „Schwärmer“ im Rahmen des Spielart Thea-
ter-Festivals
den Altstadtring mit 75 Kilometer Flatterband in kürzester Zeit komplett zu. Der Alt-
stadtring bleibt für vier Minuten blockiert, Flashmob-Künstler Benjamin David von den Urbanau-
ten wird wegen „Anstiftung zur Nötigung“ verhaftet. David: „Als ‚Urbanauten’ wollen wir mit ver-
schiedensten Projekten zu einer Rückeroberung des öffentlichen Raumes durch die Münchner beitragen. Gerade in München ist dieser stark normiert und reguliert. Das Areal zwischen der Staatskanzlei und dem US-Konsulat, in dem die eroberte Kreuzung liegt, ist extremes Beispiel für einen Unort mitten in der Stadt. Da gibt es nur Durchgangsverkehr und Überwachung … Wir haben diese Kreuzung mit den ästhetischen Mitteln der Kunst für eine andere Nutzung in Beschlag genommen. Es gibt schon lange Diskussionen darüber, den Verkehr vom Altstadtring wegzubrin-
gen. Man könnte ihn urbaner gestalten, Aufenthalt ermöglichen. Auch der ‚temporäre’ Sicherheits-
zaun vor dem US-Konsulat sorgt vielfach für Kritik. Unser Kunsthappening sollte einen Denkan-
stoß geben … Die Polizei ist ja schnell mit einem riesigen Aufgebot angerückt, dabei waren die ganze Zeit Zivilpolizisten als Mitspieler angemeldet. Meiner Meinung nach hätten sie da auch souveräner reagieren können. Wir haben schließlich penibel darauf geachtet, dass niemand zu Schaden kommt … In München muss man ständig aufpassen, dass man keine Regeln übertritt. Wir haben gerade in der Altstadt eine hochprofessionelle Polizei, die leider auch jene Regelbrüche un-
terbindet, die Urbanität ausmachen. Vielleicht war es mal an der Zeit, das deutlicher zu sagen?“2

Auch andere Zeitgenossen unterziehen die Stadt einer harschen Kritik. Es ist eine grobe Unver-
schämtheit, was Franz Gans da über München schreibt. Es wäre besser, er schriebe auch einmal über die schönen Seiten unserer Heimatstadt.3

(aktualisiert am 20.2.2019)


1 Siehe „Ein wunderbarer Sommerabend“ von Karin Sommer.

2 „Nachgefragt: Welchen Sinn haben Flashmobs? Interview: Ulrike Jochum“ In: Süddeutsche Zeitung vom 28./29. November 2009.

3 Siehe „Eigentlich könnt’s uns ja wurscht sein“ von Franz Gans.