Flusslandschaft 2010

Armut

Der hessische Ministerpräsident Roland Koch meint am 17. Januar, dass von Hartz IV Betroffene künftig gezwungen werden sollen, auch „niederwertige Arbeit” anzunehmen, auch in so genannten „öffentlichen Beschäftigungen”. Der Sprecher der ARGE München, Ottmar Schader, widerspricht Koch mit Zahlen. Von den 53.000 Beziehern von ALG II in München sind nach seinen Aussagen 24.200 Langzeitarbeitslose aktiv auf Jobsuche, 10.500 befinden sich in Förderangeboten, 7.100 erhalten ALG II als sogenannte Aufstocker, 3.700 sind Jugendliche in Schul- oder Berufsausbil-
dung. 5.000 Menschen haben erhebliche gesundheitliche Einschränkungen, wobei die Arge „in Zweifelsfällen” den Medizinischen Dienst einschaltet, also niemand einfach „krank machen kön-
ne”. Lediglich bei zwei Prozent aller ALG-II-Bezieher in München seien im vergangenen Jahr „Sanktionen notwendig geworden“.

Ursprünglich war Biss nur die Obdachlosenzeitung. Inzwischen hat sie sich zu einem ausdifferen-
zierten Projekt gemausert. Die gemeinnützige und mildtätige Stiftung Biss möchte seit 2004 das alte Münchner Frauen- und Jugendgefängnis Am Neudeck unter Einhaltung des Denkmalschutzes und Erhalt des alten Baumbestands in ein Hotel der gehobenen Klasse umbauen, um damit eine umfassende, erstklassige Ausbildung und Qualifizierung von etwa 40 jungen Menschen in beson-
deren sozialen Schwierigkeiten möglich zu machen. Sie stößt auf Schwierigkeiten.1 Am 24. Mai 2011 entscheidet der Haushaltsausschuss des Bayerischen Landtages, das Gefängnis Am Neudeck für eigentlich lächerliche 16 Millionen Euro an den kommerziellen Immobilieninvestor „REC 24 Real Estate AG“ zu verkaufen. Die Stimmung bei denen, die das Projekt verfolgten: Enttäuschung, Trauer und Wut.2

Die Juni-Ausgabe der Biss beschäftigt sich mit „Protesten“.3 Dabei erwähnt sie, dass 49 Sozial-, Jugend- und Wohlfahrtsverbände im Bündnis München Sozial — wir halten die Stadt zusammen seit 2008 eine Lobby für die „soziale Stadt“ bilden.4 Am 18. Juni verleiht das Bündnis dem Ober-
bürgermeister das Qualitätssigel „Soziale Stadt München“. Norbert J. Huber, der Vorsitzende des Bündnisses meint, „nach dem Rettungsschirm für Banken und die Abwrackprämie für die Autoin-
dustrie sollen nun allein 2011 4,3 Milliarden Euro im Etat ‚Arbeit und Soziales’ eingespart werden. Das trifft vor allem Hartz IV-Empfänger“. Genau andersherum verhalte sich die antizyklische Sozi-
alpolitik der Landeshauptstadt, die somit auch ein Vorbild für andere Kommunen sei. Selbstver-
ständlich aber werde man auch in Zukunft genau beobachten, ob die Stadt bei ihrer Politik bleibe.5

Am 28. Oktober findet eine Demonstration gegen Sozialabbau vor dem Innenministerium statt.6


1 Siehe „Tadel“ von Rainer Stadler.

2 Vgl. www.hotel-biss.de, www.biss-magazin.de, www.hotelbiss.de und www.stiftungsbiss.de.

3 Siehe „biss“.

4 Siehe „Mund auf statt mundtot!“ von Bernd Oswald.

5 Vgl. Münchner Lokalberichte 13 vom 24. Juni 2010, 3 f.

6 Siehe die Bilder der Kundgebung „gegen sozial-abbau“ am 28. Oktober von Andrea Naica-Loebell.

Überraschung

Jahr: 2010
Bereich: Armut

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