Flusslandschaft 2010

AusländerInnen

Auf Einladung des Münchner Literaturhauses soll Thilo Sarrazin am 29. September aus seinem Buch Deutschland schafft sich ab lesen. Bis jetzt sind in Deutschland 650.000 Exemplare verkauft worden. Im Vorfeld der Veranstaltung werden Einwände laut.1 Schließlich widmet Literaturhaus-Chef Reinhard Wittmann die Lesung in eine Diskussion um und verlagert ob des Publikumsan-
sturms die Veranstaltung in die Reithalle. Schon zwei Stunden vor Beginn demonstrieren etwa hundertfünfzig Menschen in der Infanteriestraße. Zwei Reporter der BR-Jugendsendung „Süd-
wild“ geben sich vor der Reithalle als Rechtsextreme aus, werben für eine neue Partei „Natio – total, jung, national“ und erhalten vom in erster Linie besseren Bürgertum, das in die Veranstal-
tung strömt, größtenteils lebhaften Zuspruch. Hundertzwanzig Beamte durchsuchen die 780 Besu-
cher der Reithalle äußerst genau. Erst spricht Sarrazin unter Applaus, dann Handelsblatt-Chef Ga-
bor Steingart, schließlich Soziologe Armin Nassehi, der zu Sarrazin meint: „Sie kommen mir vor wie ein bürgerlicher Beobachter, der mit der Unordnung der Welt nicht klarkommt.“ Die beiden Kontrahenten sowie Tagungsleiter Achim Bogdahn werden niedergebrüllt. Auf die Kritik der links-
alternativen Szene an der Veranstaltung2 setzen die so genannten „Antideutschen“, die es jetzt auch in München gibt, eine Gegenkritik.3

„Diese verdammten Ausländer sollen sich gefälligst anpassen!“ So tönt es aus vielen Gazetten, so tönen Politiker der Rechten. Ausgerechnet im wirtschaftsfreundlichen Handelsblatt ist über „Deutschlands prominentesten Integrationsverweigerer“ zu lesen: „Er weigerte sich in New York standhaft, die Landessprache zu lernen und legte nicht einmal die aus einem fremden Kulturkreis stammende Lederhose ab. Doch Oskar Maria Graf wurde in den USA nicht kritisiert, sondern geehrt … Die Amerikaner, sie ließen ihn einfach gewähren. Sie ehrten ihn gar: 1960 erhielt er die Ehrendoktorwürde der Wayne State University in Detroit. Angesichts von Grafs mangelnden Sprachkenntnissen musste ihm seine Nachbarin das entsprechende Schreiben übersetzen. Schon als er 1957 die US-Staatsbürgerschaft erhielt, durfte der überzeugte Pazifist in der Eidesformel sogar den Absatz über „die Verteidigungsbereitschaft mit der Waffe in der Hand“ auslassen. — Übrigens: 1958 reiste Graf erstmals wieder nach Europa. In München nahm er im Rahmen der 800-Jahr-Feier der Stadt an einer Lesung teil. Und dabei kam es zum Eklat: Die Veranstaltung fand im feinen Cuvilliés-Theater statt, und Graf trug seine Lederhos‘n. Was die Linienrichter der deutschen Kultur als völlig unpassend empfanden. Viel dazugelernt haben sie bis heute nicht.“4

Ende 2010 leben 1.064.819 Deutsche und 317.545 AusländerInnen, unter ihnen 40.860 TürkInnen, in München.

(zuletzt geändert am 18.4.2019)

Siehe auch „Gewerkschaften/Arbeitswelt“.


1 Siehe „Keine weitere Plattform für Thilo Sarrazins Thesen“.

2 Siehe „Ein Dampfkessel voll Ressentiments“.

3 Siehe „Warum Sarrazins Kritiker im Unrecht und seine Thesen trotzdem verkehrt sind“.

4 Wolfgang Reuter im Handelsblatt vom 3. November 2010