Flusslandschaft 2011

Bürgerrechte

Der Verfassungsschutzbericht für das Jahr 2010 behauptet, dass die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) unter „maßgeblichem … Einfluss von Linksextremisten“ stehe. „Über den bayerischen Landessprecher der VVN-BdA, Ernst Grube, beispielweise sind Verbindungen zur DKP und zu autonomen Gruppen bekannt“. Selbstverständlich unterstellt der Verfassungsschutz den Akteuren der VVN Gewaltbereitschaft.1

Kurz vor der Demonstration gegen die so genannte Sicherheitskonferenz am 5. Februar findet eine Hausdurchsuchung im Kafe Marat im Tröpferlbad in der Thalkirchnerstraße statt.2 Siehe auch „CSU“.

Anfang des Jahres stirbt der 64 Jahre alte Günter Ketterl, ein Mensch, der in der Münchner alter-
nativen Szene jahrzehnte tätig war, unauffällig und bescheiden, überall hilfsbereit, einer, der Ar-
beiten erledigte, die sonst keiner machen wollte, einer, um den viele trauern, als er tot ist. Beim Aufräumen seiner Wohnung finden sich besprochene Bänder und bald wird klar, Ketterl wirkte als V-Mann in den Kreisen, die sich äußern und engagieren, damit üble Zustände in diesem Lande und weltweit besser werden. Der Bericht in der Süddeutschen Zeitung3 deutet auch eine menschliche Tragödie an. Ketterl wusste, dass die Menschen, die er bespitzelte, nicht wertlos oder gar Verbre-
cher sind, und er wusste, dass er genau die ausforschte, die mit offenem Visier das Risiko eingehen, Kritik zu üben und Veränderung zu fordern. Als Spitzel wird man nicht geboren, zum Spitzel wird man gemacht. Von einer Behörde, die, im Verborgenen wirkend und sich bedeckt haltend, entwe-
der individuelle Schwächen ausnutzt oder Angebote macht, die einen Menschen dazu verleiten, Mitmenschen zu verraten. Wie sehr musste Ketterl seine eventuell noch vorhandenen Skrupel ver-
drängen, um diesen Job zu erfüllen?! Vielleicht war auch deshalb der Alkohol sein Helfer und ein-
ziger Freund, um einen gnädigen Schleier über Gewissensfragen zu breiten. Ketterl war Täter und genauso auch Opfer. Schlimm genug, aber um ihn geht es gar nicht, es geht um einen Staat, der es nötig hat, seine Bürgerinnen und Bürger auszuspionieren, und der sich dazu skrupellos Instrumen-
te schafft, indem er Bürger zu „Informanten“ transformiert und sie dazu veranlasst, sich würdelos zu verhalten. Ihr Tod wird zu einer jämmerlichen Katastrophe und die Erinnerung an sie wird zu einer an einen charakterlosen Verräter. Damit wird beinahe zufällig wieder einmal für kurze Zeit recht deutlich, wie dieser Staat zwar die Illusion einer offenen und demokratisch verfassten Ge-
sellschaft inszeniert, tatsächlich aber jede Gelegenheit nutzt, seine potentiell unbotmäßigen Mit-
glieder misstrauisch im Auge zu behalten und Kontrolle über sie auszuüben. Der beliebten Floskel, der Staat seien wir alle, hat schon der Philosoph Gustav Landauer widersprochen, indem er mein-
te, Staat sei immer organisierter Übergriff. Wie können wir Teil von etwas sein, das uns zu beherr-
schen beansprucht! — Nachdem immer mehr Menschen erfahren, dass sie von Günter Ketterl be-spitzelt wurden, wenden sie sich mit kritischen Anfragen an das Landesamt für Verfassungsschutz (LfA) und an den Innenminister. Das LfA behauptet in seiner Antwort, nicht relevante Informatio-nen, zum Beispiel über nichtextremistische Mitbüger, „landen im Schredder“.4 — Die Schnüffelaf-färe wird zum Anlass für eine Veranstaltung am 18. Januar 2012 um 19 Uhr im Gewerkschaftshaus (Schwanthaler Straße 64): Verfassungs“schutz“? Der ganz normale Überwachungsskandal. Mit Rolf Gössner, Angelika Lex, Klaus Hahnzog, Hedwig Krimmer, Ulrich Fuchs. Eine Informations-veranstaltung der Humanistischen Union e.V. München-Südbayern und des Einladerkreises „Ret-tet die Grundrechte“ gegen den Notstand der Republik.5

1983 führte die geplante Volkszählung zu Massenprotesten, so dass das Bundesverfassungsgericht die Volkszählung stoppte. Erst nach erheblichen juristischen Nachbesserungen konnte sie durchge-
führt werden. Mit den Stimmen der großen Koalition aus CDU/CSU und SPD legte der Deutsche Bundestag im Jahr 2009 mit dem Zensusgesetz 2011 eine neue Volkszählung für den 9. Mai fest. Die auch aufs nachbarschaftliche Umfeld und in die privat-intime Sphäre zielenden Fragen verlan-
gen Antworten, die angeblich anonymisiert tatsächlich über eine eindeutige, gespeicherte Ord-
nungsnummer zulassen, so dass Individuen „rekonstruiert“ werden können. Genau dies hat das Bundesverfassungsgericht 1983 untersagt. Wird es zu Protesten kommen oder ist die überwiegen-
de Mehrheit der Bevölkerung von Facebook, Google Street View und Personalausweis mit Funk-
chip schon so benebelt, dass sie alles mit sich machen läßt?6

7
Ampelanlage Ecke Bergmann-/Gollierstraße im Westend am 10. Juni

Am 21. Mai befinden sich zweihundert bis dreihundert Leute an der U-Bahnstation Universität. Sie demonstrieren von 15 bis 18 Uhr ohne irgendeine Anmeldung beim Kreisverwaltungsreferat und damit auch ohne Begleitung von aufmerksamen Behördenvertretern oder von der Polizei. Ihr An-
liegen: radikale Systemkritik und selbstbewusstes Auftreten für eine Utopie. Anlässe gab es schon immer genug, Auslöser sind die Revolutionen in Nordafrika, die Proteste in Griechenland und Por-
tugal und aktuell die Besetzung der Plaza del Sol in Madrid durch Tausende, die ihr Zutrauen in die etablierte Politik, in Parteien und Gewerkschaften verloren haben und sich die „Empörten“ nen-
nen. Aufgerufen zur Münchner „spanishrevolution“ wurde über das Internet und über Handys.8

Am 23. August schaltet das bayrische Innenministerium die Web-Seite www.bayern-gegen-linksextremismus.bayern.de frei. Innenminister Herrmann meint dazu: „Der Linksextremismus ist genauso gefährlich wie der Rechtsextremismus.“ Er verweist dabei auf die Zunahme „linker Straf-
taten“, verschweigt aber, dass Proteste und Blockaden gegen Rechtsextremisten immer öfter als „Widerstand gegen die Staatsgewalt“ zu Anzeigen und Verurteilungen führen, die selbstverständ-
lich in die Statistik eingehen.


Echte Demokratie jetzt! votiert am 15. Oktober auf dem Stachus nicht nur für mehr politische Par-
tizipation des Volkes, sondern stellt auch einen Zusammenhang zur gegenwärtigen Finanzkrise her. Kerem Schamberger meint in seiner Rede u.a.: „Vor drei Jahren haben die Banken bereits die öffentlichen Kassen überfallen. Geld her – oder das ganze Finanzwesen bricht zusammen. Mit er-
presserischen Mitteln haben sie die Schulden der Banken in die öffentlichen Haushalte verscho-
ben, um die Vermögen der Reichen zu retten. Die Deutsche Bank verlangte. dass die Regierungen das notwendige Geld über Staatsanleihen beschaffen. Jetzt sind die Staaten verschuldet – bei den Banken! Diese kassierten Zinsen und fuhren Rekordgewinne ein. 10 Milliarden Gewinn hatte Deutsche Bank-Chef Ackermann für dieses Jahr geplant. Die Profite sind privat, die Verluste wer-
den sozialisiert …“ Schamberger fordert: „Keine Rettungsschirme für die Banken und die Reichen, sondern Rettungsschirme für Arbeitsplätze, Löhne, Renten und die sozialen Sicherungssysteme! Was alle brauchen – Bildung, Energie, Gesundheitsversorgung, Transport, Wasser – das soll auch allen gehören. Für eine Wirtschaft, die schonend mit der Umwelt umgeht und dem Menschen nützt, müssen die entscheidenden Wirtschaftssektoren in Gemeineigentum überführt werden, Deshalb gehören Banken und Finanzkonzerne in öffentliches Eigentum unter demokratischer Kontrolle. Für die Durchsetzung einer alternativen sozialen Politik ist die Vergesellschaftung der Banken und Finanzkonzerne erforderlich. Der Mensch geht vor Profit!“9 — Republikaner veran-stalten am selben Tag, 15. Oktober, eine Kundgebung auf dem Marienplatz. Gegendemonstranten stören mit Pfiffen und Rufen. Polizei greift ein, nach Meinung eines Zeugen allzu eifrig.10

Seit den Neunziger Jahren setzt sich Mehr Demokratie für mehr Volksbegehren auf Landes- und kommunaler Ebene ein: www.bayern.mehr-demokratie.de. — Echte Demokratie jetzt! mobilisiert für eine Demonstration am Samstag, 12. November, die um 12 Uhr mit einer Auftaktkundgebung am Geschwister-Scholl-Platz beginnt und dann zum Odeonsplatz zieht. Hier tritt u.a. Konstantin Wecker auf.11

Am Mittwoch, 14. Dezember, findet aus Anlass des sechsten Jahrestags der Verabschiedung einer entsprechenden EU-Richtlinie um 11 Uhr vor der CSU-Zentrale in der Nymphenburger Straße 64 ein „Aktionstag gegen die Vorratsdatenspeicherung“ statt. Der AK Vorrat, ein Zusammenschluss von Organisationen und Personen, der sich gegen die ausufernde Überwachung von Telekommuni-
kation wehrt, protestiert gegen die geplante Speicherung von Telekommunikationsdaten ohne An-
lass. Bei der Protestaktion ist ein überdimensionales Spinnennetz als Symbol für die geplante Vor-
ratsdatenspeicherung zu sehen. Die Forderungen: 1. in Deutschland keinerlei verdachtslose Vor-
ratsspeicherung von Informationen über jedes Telefonat, jede SMS, jede E-Mail oder jede Internet-
verbindung wieder anzuordnen, 2. die EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung aufzuheben und jede verdachtslose Vorratsspeicherung von Verbindungsdaten europaweit zu verbieten.


1 Siehe www.bayern.vvn-bda.de/artikel/2011/20110610.html.

2 Siehe „Wieder Hausdurchsuchung im ‚Kafe Marat’“.

3 Vgl. Bernd Kastner: „In geheimer Mission“ In: Süddeutsche Zeitung vom 25. Oktober 2011, R 3; vgl. dazu auch „Spitzel in München aufgeflogen“ In: info der Roten Hilfe e.V. Ortsgruppe München vom Februar 2012, 1 f.

4 Süddeutsche Zeitung 249 vom 28. Oktober 2011, R 3; siehe auch „Rede von Wolfgang Blaschka für das Münchner Bündnis gegen Krieg und Rassismus am 26. November 2011“ und „Betr.: Verfassungsschutz“ von Gerhard Szczesny 1968.

5 Siehe „Tiefes Bayern: Der CSU-Staat beim Selbstschutz“ von Martin Fochler.

6 Vgl. dazu auch: Franz Kotteder. Die wissen alles über Sie. Wie Staat und Wirtschaft Ihre Daten ausspionieren – und wie Sie sich davor schützen, München 2011.

7 Foto: Franz Gans

8 Siehe „spanishrevolution“. Wie sich in den letzten vierzig Jahren Formen des Protests sowie polizeiliche Interventionen geändert haben, beschreibt „Eine kleine Demogeschichte. Protest und Polizei in den letzten vierzig Jahren“ in Bürgerrechte & Polizei/CILIP 100 (3/2011), www.cilip.de/ausgabe/100/interview_demogeschichte.htm.

9 Siehe www.echte-demokratie-jetzt.de/aktionen/ und www.15oktober-muenchen.de/

10 Siehe Gerstenbergs „Liebe ist für alle da!“.

11 Siehe www.echte-demokratie-jetzt-muenchen.de.