Materialien 1957

Ekelfleisch vom Schlachthof

Lebensmittelskandale häufen sich – wer trägt die Verantwortung?

Die mageren Jahre waren vorbei. Im wachsenden Wohlstand waren Lebensmittelmarken, Hungerstreiks, Suppenküchen, Schulspeisung, Kartoffelkrieg und der politische Streit um das amerikanische „Hühnerfutter“ vergessen. Die Bundesbürger konnten wieder zulangen und sich die Mägen füllen – bald mussten sie sich eher Sorgen um zu viel als um zu wenig „Kalorien“ machen. Doch die Überfülle, die Steigerung der Quantität (bis hin zu „Butterbergen“ und „Milchseen“) zeitigte ein weiteres Problem: die nachlassende Qualität des wichtigsten aller Güter (bis hin zu betrügerischen Fälschungen). Die damals ruchbar gewordenen Fälle machen deutlich, dass die in den jüngsten Jahren aufgedeckten Nahrungsmittelskandale („Gammelfleisch“ usw.) im Wesentlichen nichts Neues sind.

Die Verbraucher waren aufgebracht. Monatelange Ermittlungen der Münchner Staatsanwaltschaft hatten im September 1957 unhaltbare, ekelerregende Zustände in großen Lebensmittelbetrieben aufgedeckt. Zuerst wurde Anklage erhoben gegen die Leiter des städtischen Milchhofes, weil er verdorbene Milch und angesäuerte Rahmrückstände verarbeitet haben sollte. Wenige Tage später beschuldigte ein anderer Staatsanwalt mehrere Metzger, infektiöses Fleisch verkauft zu haben.

Im Milchhof, der größten Molkerei der Stadt, hatten Sachverständige entdeckt, dass abgestandene und teilweise sauer gewordene Magermilch durch Natriumkarbonat „neutralisiert“ worden war. Damit sollte, was verboten war, die Gerinnung bei der Weiterverarbeitung zu Käse verhindert werden. Dies sei nur zu Futterzwecken geschehen, gab die Direktion immerhin zu. Sie versuchte, die Beschuldigungen als Racheakt eines früheren Angestellten abzutun. Die Münchner Hausfrauen jedenfalls waren sauer.

Der zweite Fall beunruhigte die Bevölkerung umso mehr, als damit auch massive Vorwürfe gegen die Aufsichtsbehörden und sogar gegen die Spitze der Stadtverwaltung verbunden waren. Im Brennpunkt der Kritik stand der städtische Schlacht- und Viehhof, der auch nach Meinung leitender Beamter für das soeben zur Millionenstadt aufgestiegene München technisch veraltet und personell unterbesetzt war.

„An Schlachttagen geht’s bei uns drunter und drüber“, gestand ein Abteilungsleiter des Schlachthauses. „Dabei ist es durchaus möglich, dass sich ein Lump untaugliches Fleisch aneignet, gestohlen wird am laufenden Band.“ Berichtet wurde zum Beispiel, dass ein Friseur in der Nähe des Schlachthofs einen schwunghaften Handel mit solchen schädlichen Fleischabsonderungen betreibe. Eine lückenlose Kontrolle war angeblich wegen Personalmangels nicht möglich.

So kam es denn auch, dass der Metzgermeister August Albrecht, der Hauptangeklagte in dem im November verhandelten Prozess, aus dem Schlachthof sechs Rinderlungen bezogen hatte, die faustgroße Tuberkuloseherde und eitrige Abszesse aufwiesen. Die Stücke waren zwar von zwei Amtstierärzten beschlagnahmt worden, man hatte jedoch „vergessen“, dies ordnungsgemäß auf einem Verweisungsschein anzumerken, sodass das Fleisch ungehindert die Kontrollen passieren konnte. Die Ekelstellen waren erst später von Hausfrauen bemerkt worden.

Nun behauptete der Metzger Albrecht, der allerdings einschlägig vorbestraft war, er habe die Stadtverwaltung schon früher auf die mangelhaften Kontrollen im Schlachthof aufmerksam gemacht. Tatsächlich lag ein von mehreren Fleischermeistern unterschriebener Brief an den Bürgermeister vor, worin mitgeteilt wurde, dass verschiedentlich schon krankes Fleisch ohne Wissen der Metzger in den Handel gebracht worden sei. Albrecht wollte einmal sogar eitrige Rindernieren dem Oberbürgermeister Thomas Wimmer persönlich im Rathaus gezeigt haben. Ein andermal habe ihm der zuständige Stadtrat Anton Weiß, auf die „unhaltbaren Zustände“ im Schlachthof hingewiesen, lediglich geantwortet: „Ja mei, den letzten beißen halt die Hunde.“ Wen also traf nun wirklich die Verantwortung?

Im Prozess, der sich auf diese Frage zuspitzte, wurde der 46-jährige Metzger August A. zu acht Monaten Gefängnis ohne Bewährungsfrist und zwei Jahren Berufsverbot verurteilt. Zwar habe der Angeklagte eine Weisung der Münchner Metzgerinnung, wonach jeder Schlachtermeister selbst „aufpassen“ müsse, an seine Angestellten weitergegeben, urteilte das Gericht. Dies könne ihn aber nicht von der Verantwortung für den Verkauf der zwölf kranken Rinderlungen befreien. Zumal A. auch noch wegen Verfälschung der berühmten Münchner Weißwurst angeklagt war.

Besorgt fragten sich jetzt die Münchner Hausfrauen, ob für die Zukunft garantiert sei, dass kein Ekelfleisch mehr aus den Kontrollzonen des städtischen Schlachthofs in den Handel komme. „Nach menschlichem Ermessen“, versicherte Kommunalreferent Weiß vor dem Stadtrat, „ist bei Einhaltung der gesetzlichen Vorschriften ausreichend Gewähr für das Erkennen und Beseitigen krankhafter Tierkörperteile gegeben.“ Weil diese Erklärung nicht alle Mitglieder des Stadtrats überzeugte, wollte sich dieser mit der leidigen Sache noch einmal eingehend befassen.


Karl Stankiewitz, Weißblaues Schwarzbuch. Skandale, Schandtaten und Affären, die Bayern erregten, München 2019, 132 f.