Flusslandschaft 1957
Gewerkschaften/Arbeitswelt
Das Motto des DGB zum Ersten Mai lautet: »Widervereinigung — ohne Gewalt — doch bald.« Ludwig Linsert meint vor etwa fünfzigtausend Kundgebungsteilnehmern: „Die Gewerkschaften sind nicht Schuld an einer Ordnung, welche den Besitz höher wertet als den Charakter. Der Frei-heit der politischen Entscheidung des Staatsbürgers steht die Abhängigkeit des Wirtschaftsun-tertanen vom Unternehmer gegenüber.“1
Mai: „Die offizielle Maibockprobe, zu der sich gestern über zweitausend Gäste im Hofbräuhaus am Platzl versammelten, begann damit, dass der Ansager Dr. Vierlinger auf der Bühne über den Kon-
trabass der Hauskapelle fiel und damit als erster vor dem mindestens achtzehnprozentigen Ger-
stensaft in die Knie ging. Dann zapfte Hofbräuhauswirt Franz Trimborn an … Als am Nachmittag die ersten fünftausend Maß von den durstigen Kehlen geschluckt waren, streikten die Kellnerin-
nen.“2
Als im 19. Jahrhundert die Arbeiter die Herabsetzung der Arbeitszeit forderten, hieß es, dies würde nicht nur den wirtschaftlichen Ruin herbeiführen, sondern auch die Arbeiter moralisch aushöhlen; die würden ihre freie Zeit ja doch nur in der Wirtschaft (der richtigen!) beim Tarocken verbringen. 1954 lag die durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit bei knapp fünfzig Stunden. Auf der Mai-
kundgebung 1954 forderten die Gewerkschaften die Fünf-Tage-Woche unter dem Motto: „Sams-
tags gehört Vati mir.“ Schließlich werde in vierzig Arbeitsstunden mehr geleistet und mehr produ-
ziert als vor einigen Jahren in achtundvierzig Stunden. Die Frühinvalidität nehme zu; der Kran-
kenstand steige gegenüber früheren Jahren um bis zu fünfundzwanzig Prozent. Am häufigsten seien Erkrankungen des Herzens. 1957 lauten die Argumente gegen die Arbeitszeitverkürzung, dass der Mensch zu vermassen drohe, und dass sein kulturelles Niveau, vom „Konsum der Massen-
medien, Spielautomaten und Wurlitzerorgeln gefördert“, absinke. Zu schöpferischer Eigentätigkeit sei er heute nicht mehr fähig, und die vorhandene freie Zeit reiche allemal aus, ihn für die Arbeit wieder fit zu machen – wozu also Arbeitszeitverkürzung!? 1957 arbeiten immer noch sieben Millio-
nen Menschen mehr als achtundvierzig Stunden in der Woche.
Im September werden Lebensmittelskandale aufgedeckt. Die Empörung ist groß.3
1 Fotos von Rudolf Pröhl befinden sich in der Fotosammlung des Archivs der Münchner Arbeiterbewegung.
2 Stadtchronik, Stadtarchiv München.
3 Siehe „Ekelfleisch vom Schlachthof“ von Karl Stankiewitz und „Wurst wider Wurst“.