Materialien 1963

Aller Sorgen ledig ...

In einer Welt, in der noch immer Millionen zu Hunger und Entbehrung verdammt sind, erleben wir die Widersinnigkeit, dass der Absatz wie eine militärische Strategie von riesigen Stäben geplant werden muss. Wissenschaftliche Berater, Tiefenpsychologen, Motivforscher und Bedarfslenker arbeiten Tag für Tag an einer Werbung, die auf unsere Vorurteile, Verdrängungen, geheimen Ängste, Wünsche und Sehnsüchte zugeschnitten ist. „Sind Sie ein geselliger Typ? Dann sind Sie ein Zigarrenmann!“ „Denn Männer nehmen Pitralon!“ „Wo Männer das Leben meistern …“ „Puschkin-Wodka – für harte Männer!“ In unzähligen Variationen wird die Leimrute der „Männlichkeit“ ausgelegt: der unterschwellige Appell an das Minderwertigkeitsgefühl so vieler Männer, die in dem heutigen harten Existenzkampf ihrer Männlichkeit nicht mehr ganz sicher sind. „Tempo, Lebensfreude, junge Leute – und natürlich Cadbury!“ „Moderne Menschen – modernes Leben …“ „Der Duft der großen weiten Welt“ „Genuss im Stil der neuen Zeit“ Mit solchen Reizformeln gaukelt uns die moderne Werbung die Zugehörigkeit zu einer Traumwelt vor, die nur zu sehr unseren unerfüllten Sehnsüchten entspricht. In dieser Traumwelt sind alle Probleme im Handumdrehen zu bewältigen: du musst nur gut rasiert sein, möglichst das Rasierwasser mit der betont männlichen Note benutzen, Schuppen und Haarausfall bekämpfen, die richtige Zahnpasta, das richtige Mundwasser, die richtige Frisiercreme verwenden und im richtigen Moment die richtige Zigarette „frohen Herzens“ genießen – und dein Leben wird ein Hochgefühl sein. Alle Frauenherzen fliegen dir zu. Und sollte es doch einmal nicht so klappen mit der „Leistungsfähigkeit“ und „männlichen Spannkraft“, dann gibt es „Kraftreserven im Dragee“, das „biophysische Funktions-Tonikum für den gesamten Organismus“ – und Tabletten, Tabletten, Tabletten …

Die Krankenzimmer der Ärzte füllen sich. Der DGB erklärte, „dass die Durchschnittsindividualität der erwerbsfähigen Männer heute bei 56 Jahren liegt“. Nach der Statistik der Weltgesundheitsbehörde beruhen mindestens 30 bis 40 % der Arbeitsausfälle durch Krankheit auf psychischen Ursachen. Die Sucht nach Alkohol, Drogen und Betäubungsmitteln greift immer mehr um sich. Die Anfragen bei den „Psychologen“ der Illustrierten-Presse sind erschütternde Zeugnisse von Lebensangst und unüberwindbaren Schwierigkeiten. Die Reklameindustrie aber präsentiert uns Menschen, die aller Sorgen ledig sind – von Gesundheit, Glück und Jugend strotzende Mitglieder einer „modernen Wohlstandsgesellschaft“, in der wir angeblich leben. Es sind die Retorten-Geschöpfe der kapitalistischen Ideologie, mit denen wir uns identifizieren sollen, damit uns nicht bewusst wird, wie schlecht es uns in Wirklichkeit geht …

Rolf Gramke


Aus: „Woher wir kommen, wohin wir gehen“ in: Heute 5/1963, 28.

Überraschung

Jahr: 1963
Bereich: Männer

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