Flusslandschaft 1957
Frieden
Heinz Huber von der Internationale der Kriegsdienstgegner (IdK) erinnert sich: „Zu Hochzeiten des Kalten Krieges hatte die IdK in München über siebenhundert Mitglieder.“1
In der Arbeiterjugend finden sich viele, die der offiziellen Politik kritisch gegenüberstehen, in der akademischen Jugend herrscht mit wenigen Ausnahmen eher rechtsextremes Denken vor.2
Nobelpreisträger Otto Hahn: „Zwei verlorene Weltkriege sind eine schwere Hypothek. Wir sollten daraus lernen, dass auch die größten technischen Leistungen, die größte sogenannte »Tüchtig-
keit«, der Glaube, dass man alles tun kann, wenn es nur Erfolg verspricht, dass dies nicht die rich-
tige Weltanschauung sein kann. Wir müssen wieder Ehrfurcht vor dem Menschenleben haben. Es kann nicht der Sinn einer Weltordnung sein, das, was eine jahrtausendelange Entwicklung dem Menschen in die Hand gegeben hat, dazu zu verwenden, den Menschen selbst wieder zu vernich-
ten.“3
Bundeskanzler Konrad Adenauer erklärt in einem Interview, die neue Generation von taktischen Nuklearwaffen sei „nichts weiter als die Weiterentwicklung der Artillerie. Selbstverständlich kön-
nen wir nicht darauf verzichten, dass unsere Truppen auch in der normalen Bewaffnung die neu-
este Entwicklung mitmachen.“ Er bezieht sich dabei auf eine neue militärische Doktrin des US-amerikanischen Verteidigungsministers, der neben dem Einsatz strategischer Nuklearraketen („massive Vergeltung“) auch einen Einsatz taktischer Atombomben unterhalb der „Armageddon-Schwelle“ als eine strategische Option formuliert hat („abgestufte Abschreckung“). – Am 5. April wenden sich eintausendfünfhundert Menschen gegen die Lagerung von Atomwaffen in der BRD; am 12. April erscheint die „Göttinger Erklärung“ von achtzehn Atomwissenschaftlern gegen die atomare Bewaffnung der Bundeswehr, unter ihnen drei Münchner Physikprofessoren sowie der Direktor des Münchner Forschungsinstituts Heisenberg. Sie betonen: „Heute kann eine taktische Atombombe eine kleinere Stadt zerstören, eine Wasserstoffbombe aber einen Landstrich von der Größe des Ruhrgebietes zeitweilig unbewohnbar machen … Durch Verbreitung von Radioaktivität könnte man mit Wasserstoffbomben die Bevölkerung der Bundesrepublik wahrscheinlich schon heute ausrotten.“ Als Antwort auf die „Göttinger Erklärung“ gegen die Atombewaffnung meint Franz Josef Strauß über einen der Professoren, Otto Hahn, der mitunterschrieben hat: „Ein alter Trottel, der die Tränen nicht halten und nachts nicht schlafen kann, wenn er an Hiroshima denkt.“4
„Der Vorstand des Landesfriedenskomitees Bayern sandte an die 18 deutschen Atomforscher gleichlautende Briefe folgenden Wortlauts: ‚Sehr geehrter Herr Professor! Der am 13. April 1957 in München versammelte Vorstand des Landesfriedenskomitees Bayern begrüßt Ihre Warnung an die Bundesregierung und schließt sich Ihrer Forderung, von der geplanten Ausrüstung der Bundes-
wehr mit Atomwaffen Abstand zu nehmen, vollinhaltlich an. Der Vorstand des Landesfriedensko-
mitees Bayern versichert Ihnen seine Bereitschaft, alle Maßnahmen zu unterstützen, die zur Ver-
ständigung zwischen den Atomgroßmächten führen und Deutschland vor einem Atomkrieg schüt-
zen. Wir gehen mit Ihnen einig, dass eine neue Art des Denkens notwendig ist, und hoffen, dass Ihr mutiges Beispiel mit dazu beiträgt, unser Volk vor einer Atomkatastrophe zu bewahren. Hochach-
tungsvoll Landesfriedenskomitee Bayern, München, Viktoriastraße 11’“5
Am 30. April begrüßt der Münchner Stadtrat den Appell Albert Schweitzers, alle Atomwaffentests einzustellen.6 Am 17./19. Mai fordert die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) auf ihrem Bundeskongress die sofortige Beendigung aller Atomwaffenversuche, Abrüstung und Ab-
schaffung der Wehrpflicht.
„Der Münchener Lehrer- und Lehrerinnenverein fasste auf einer außerordentlichen Versammlung, die mit einem Vortrag von Prof. A. Wenzel über die Gefährdung der Menschheit durch die nuklea-
ren Waffen eröffnet wurde, eine Entschließung, in der es u.a. heißt: … Die Lehrerschaft, die ihre vornehmste Aufgabe in der Erziehung zum Frieden, zur Verständigung der Völker und Menschen und zur sozialen Gerechtigkeit sehe, fordere daher eine Politik des Vertrauens und der Verständi-
gung und richte an alle Verantwortlichen und an die gesamte Öffentlichkeit den dringenden Ap-
pell, dafür einzutreten, dass der Machtpolitik, dem sorglosen Wettrüsten und insbesondere den Versuchen mit nuklearen Waffen unverzüglich Einhalt geboten werde. Sie erwarte, dass mehr Mittel als bisher für die Förderung einer gesunden Entwicklung der Jugend bereitgestellt würden. Der Wettlauf zum Tode, heißt es wörtlich, muss von einem Wettbewerb zur Erreichung und Si-
cherstellung der Gesundheit unserer leiblichen und geistigseelischen Existenz abgelöst werden.“7
Am 18. Juli spricht Bundestagsvizepräsident Richard Jaeger (CSU) vor zweitausend Menschen auf einer Wahlkampfkundgebung. Er meint, die allgemeine Wehrpflicht sei eine Notwendigkeit. Es kommt zum Handgemenge zwischen Antimilitaristen und Saalordnern. Schließlich erklingen Sprechchöre „Heil Adenauer“.
Am 9. August spricht der seit 1956 amtierende Bundesverteidigungsminister Franz Josef Strauß auf einer Wahlkampfveranstaltung im Hofbräuhaus am Platzl. Antimilitaristen unterbrechen wiederholt seine Rede. Es kommt zum Tumult, als ein Mitglied des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) Strauß ein Paket mit einem Radiergummi „zum Ausradieren der Sowjet-
union“ überreicht. Eine Hundertschaft der Polizei steht im Nebensaal in Bereitschaft. Sie greift ein und nimmt acht Menschen fest. Den Inhalt des Pakets hat die Polizei zu Beginn der Veranstaltung überprüft und für unbedenklich gehalten.
Die Bundestagswahl vom 15. September gewinnt die CDU/CSU mit dem Slogan „Keine Experimen-
te“. Sie will auch keine Experimente mit dem Rapacki-Plan, der eine atomwaffenfreie Zone in Mit-
teleuropa vorsieht.8
Am 19. Dezember beschließt der NATO-Rat die Stationierung von Atomwaffen und Mittelstrecken-
raketen in Europa.
(zuletzt geändert am 5.4.2021)
1 Heinz Huber in der Sendung „Nie wieder Barras, nie wieder Krieg“ des Friedensforums in Radio Lora am 7. September 1989.
2 Siehe „gedenkschrift“.
3 Zit. in: Münchner Freisinn. Kostenlose Monatszeitung für Politik und Kultur 3 vom März 1991, 2.
4 Zit. in: Stern vom 26. März 1975 und Münchner Freisinn. Kostenlose Monatszeitung für Politik und Kultur 3 vom März 1991, 2.
5 Blaubuch über den Widerstand gegen die atomare Aufrüstung der Bundesrepublik. Zusammengestellt und herausgegeben vom Friedenskomitee der Bundesrepublik Deutschland, Düsseldorf 1957, 47.
6 Siehe „Aufruf des Münchener Stadtrates“.
7 Süddeutsche Zeitung vom 22./23. Juni 1957, zit. in Blaubuch über den Widerstand gegen die atomare Aufrüstung der Bundesrepublik. Zusammengestellt und herausgegeben vom Friedenskomitee der Bundesrepublik Deutschland, Düsseldorf 1957, 32 f.
8 Vgl. wir. Information für Münchner Gewerkschafter, hg. vom DGB-Kreis München 4/1983, 9.