Materialien 1968

Nabel der Welt

»Als ich aus der Türkenstraße in die Adelheidstraße zog, hatte ich das Gefühl, vertrieben zu werden. Ausgetrieben, ausgesetzt. Das hat lange angehalten.«

Rita Mühlbauer kommt 1959 aus dem Allgäu nach München.

»Ich wollte einfach Künstlerin werden. Gott sei Dank hab’ ich das Studium bezahlt gekriegt, vom Staat, weil mein Vater nicht mehr aus dem Krieg nach Hause gekommen ist.«

Erst einmal macht sie Gebrauchsgraphik, landet in einer Werbeagentur: >Das war nichts, gar nichts, ein Drama.< Sie geht zur Akademie und steht ratlos vor den verschiedenen Kunstauffassungen. >Wenn man aus der Provinz kommt und so ein junges Ding ist, dazu noch aus einfachen Verhältnissen, da weiß man überhaupt nicht, wo es langgeht. Es war im Grunde ein unheimlich verschnarchter Haufen, diese ganze Akademie.

Ganz akademisch gaben sich die Abstrakten und gleichzeitig rabiat, wegen ihres langen Kampfes gegen den Historizismus. Ich hatte mehr eine Neigung zum Naturalistischen, ich habe gesucht, gesucht, gesucht.«

Sie hat Glück, findet ihren Professor: Xaver Fuhr. »Er war ein Expressionist, der viel berühmter hätte werden können, wenn er nicht das beschissene Malverbot im Dritten Reich gehabt hätte. Er hat uns viel darüber erzählt, auch über Hintergründe: welche Maler welchen Minister wie geschmiert haben, damit das Malverbot aufgehoben wird. Er war ganz verbittert. Er ist aber nicht abgehauen, sondern in die innere Emigration gegangen. Seine Frau hat ihn irgendwie durchbringen müssen.«

Zwölf Semester studiert sie an der Akademie bis 1969. »Ich bin immer noch dankbar, dass ich die Zeit hatte und diesen Spielraum, um herauszukriegen, was ich eigentlich wollte und was möglich war. Dass ich nicht sofort ins Berufsleben gedrängt wurde und gar nicht mehr nachdenken konnte.«

In dieses Vakuum stieß die Studentenbewegung »und wir mit Karacho hinein: Ich habe noch ganz dramatisch das letzte Bild schwarz gemalt und dann ab in die Ecke damit. Wir hatten ja jetzt wichtigere Dinge zu tun als individualistisch vor uns hinzumalen. Es ging schließlich um die Revolution. (lacht) Wir machten Plakate und Agitationskunst. Wir waren es, die die Akademie ausgestaltet haben mit Ratten, Raben und Bullen. Da gab es ganz Findige, die haben Stempel aus Schaumgummi gemacht und damit die Wände verziert.

Es gab eine Zeit nach der Gründung der HSK, der Hochschulgruppe Sozialistischer Kunststudenten, heute klingt das dogmatisch, war aber zu der Zeit eher anarchistisch, da hatten wir die Akademie praktisch fest im Griff.

Und wie wir gelernt haben, gelesen und diskutiert! In Arbeitskreisen und zu Hause. Eigentlich überall. Wir hatten so einen Hunger und so eine Neugierde. Es war ein ungeheurer Nachholbedarf da und wir haben uns gegenseitig viel beigebracht.

Um uns herum war das Wirtschaftswunder-Deutschland mit seinen überkommenen und verknöcherten Werten. Verblödet alles und verbiestert. Wir suchten Vorbilder, linke Vorbilder, die wir für unseren Aufbruch brauchen konnten. Marx für Politik, Reich für Psychoanalyse, die Frankfurter Schule. Wir waren so geprägt von der Studentenrevolte, die sich wie ein Lauffeuer ausgebreitet hatte, dass wir uns anders benahmen als die anderen, anders redeten, uns anders bewegten, anders angezogen waren. Wir waren unter Gleichaltrigen und diese Gruppen waren für mich die Welt.

Damals hat man ja praktisch die Wohnung nach außen verlagert. In den Kneipen hat man gewohnt und zu Hause gerade geschlafen.

Man zog herum. Im Prinzip waren wir eigentlich Hippies, das war das Lustige und Schöne. Wir hingen herum, hier einen Joint, dort einen, hier spielen, da schlafen, wir lebten in den Tag hinein. Alles ausprobieren.

Man wollte ja der neue Mensch sein, kühn, offen und neugierig, nicht so hinterfotzig-verquast, bigott und verlogen wie das Establishment.

Von eigenen Leichen im Keller wollte man nichts wissen, die Sehnsucht nach Archaischem galt als reaktionär, das durfte man nicht zugeben, dagegen hat man gekämpft.

Und so gleich das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Wie die Alten nur auf >Vererbtes< als Bestimmendes im Menschen setzten, so wir nur auf >Erziehung und gesellschaftliches Umfeld<. Wir wollen dem Modernismus aus dem Weg gehen, dieser ganzen bescheuerten Konsummentalität. Wir haben eine eigene Ästhetik entwickelt: entweder trug man Sachen aus dem Trödel oder aus fremden Kulturen. Da hat sich keiner Gedanken gemacht, dass das vielleicht auch eine Werteausbeutung war. Man fand es einfach wunderschön, vor allem, weil es anders war.

Man hat sich bewusst abgesetzt von der Gesellschaft. Ich habe Kleider aus dem Trödel, die ich heute noch trage. Das Wichtigste war tatsächlich in dieser wilden Zeit: wir waren ständig auf der Suche, ständig unterwegs. Wir hatten das Gefühl, überall gibt es plötzlich neue Ideen, da musst du hin, da musst du zuhören.

Im privaten Bereich, im gestalterischen, was die Musik anging, den Sex, die Feste, alles war bunt durcheinandergewürfelt.

Wir haben herumgekifft und herumgevögelt, einfach so, aus Neugierde und weil man es tat, auch wenn man nicht so richtig selig dabei wurde wie ich.

Die Wohngemeinschaften waren gemischt, bis 1978 habe ich nie privat gewohnt. Ich habe viel dabei gelernt, vor allem haben sie mir geholfen, meinen Minderwertigkeitskomplex zu überwinden.

Was ganz wichtig war: man durfte schmuddeln! Man musste sich an keine Regeln halten außer denen, die man sich selber gegeben hatte oder von denen man annahm, man hätte sie sich gegeben.

Die Männer waren in ihren Dritte-Welt-Arbeitskreisen und die Frauen waren eher so dabei. >Mädele< sagt man bei uns, >darfst auch dabei sein und Publikum spielen<.

Bis die Frauen aufgewacht sind. Anregungen kamen auch aus Berlin, von den Kommunen 1 und 2. Dann haben sie sich um Matriarchatsforschung gekümmert und andere psychologische Themen. Die Ergebnisse, sind dann nach innen gegangen, in die Freundschaften, in die Beziehungen, die das gerade bitter nötig hatten.

Meist war der Anlass, sich in so einer Frauengruppe zu engagieren, die gravierende Untreue eines Partners wie bei mir. Am Anfang waren wir 10, 15 Akademiefrauen, dann kamen die Kunsthistorikerinnen der Uni dazu, es gab richtige Metastasen. Und da hat jede plötzlich ihre Bettdecke gelüpft und erzählt was bei ihr so los war. Man hat Erfahrungen ausgetauscht und vor anderen zum ersten Mal so richtig ausgepackt. Das hat man üben müssen, richtig üben.

Bei der § 218-Geschichte war ich auch wieder dabei, ich war eine der Initiatorinnen und wohnte damals in der Türkenstraße, auf 68 a.

Ich habe Unterschriften gesammelt für >Ich habe abgetrieben< und da hat fast die ganze Straße unterschrieben. Außer vielleicht ein paar alten Weiberln.

Das Thema Malerei hatte ich beiseite geschoben, die Frage, was das für mich gesellschaftlich bedeuten könnte.

Ich hatte zwar beim Situationismus irgendwie mitgemacht, aber eher ideell. Es war nicht mein Weg zum Malen. Ich habe mich auch dann langsam zurückgezogen.

Schon bevor es die Studentenbewegung gab, habe ich mich manchmal betrunken, um abstrakt malen zu können. Aber es hat beim besten Willen nicht geklappt. Ich hab’ ekstatisch gemalt, mich aber dabei unglücklich gefühlt. Und wusste nicht weshalb. Wusste nicht, welche gesellschaftliche Ursache das hatte, welcher Haupt- oder Nebenwiderspruch dafür verantwortlich war.

Ich habe eine eher kontemplative Art mit Bildern umzugehen. Mit Hanno Rink habe ich mich zusammengetan und die Flucht nach vorne angetreten. Gleich Pop-Art und gleich in die Auftragskunst. Der Gestus des bürgerlichen Individualismus kam nicht mehr in Frage.

Viele meiner Freunde sind geprägt worden durch Gruppen wie >Cobra<, >Spur<, >Geflecht<, >Wir< und dem >Kollektiv Herzogstraße<, da war eine geistige Verwandtschaft da.

Mit Hanno konnte ich Bilder zusammen malen. Aber es blieb sein Gestus.

Was ich getan habe: ich habe Miniaturen gemalt in der Zeit, winzigklein, um sie gegen diese großen Revolutionsgesten zu setzen.

Jeder probierte alles aus, stellte alles in Frage, provozierte, wo er konnte. Die Zeitungen waren voll von uns und wir hielten uns für den Nabel der Welt.

Die Akademie war unsere engere Heimat, zur weiteren gehörten Amalien- und Türkenstraße. Die Akademiefeste waren phantastisch. Sogar die Nacht in der Ettstraße, eingesperrt, war ungeheuer aufregend und schön. In den Kneipen spielten wir unsere Musik: Amon Düül, Pink Floyd, die Stones. Bei Parties gab es Pornofilme und dann kursierte ein Foto: Germaine Greer’s Möse.

Man hat sich etwas getraut damals. Da waren die Weiber genauso frech wie die Typen. Heute ist so etwas undenkbar, das wäre direkt abgefuckt. Damals war es neu. Man hat mit ganz neuen Augen geschaut, man hat das Gefühl gehabt, man sei tatsächlich neugeboren.

Dann ging es los mit dem Dogmatismus und der Rechthaberei. Die Niederschlagung des Prager Frühlings, die mich sehr erschüttert hat, soll plötzlich richtig gewesen sein, weil da irgendwie der US-Imperialismus seine Hände mit im Spiel gehabt haben soll.

Die K-Gruppen entstanden, diese ganzen kommunistischen Zersplitterungen und schon war der Spaß weg. Wenn da so einer mit seinem ganzen revolutionären Pathos daherkam, habe ich mich immer gefragt: Wo kommt der her? Wo verdient der sein Geld? Kriegt er es etwa von Zuhause? Ich wusste bei mir: ich erbe nichts, ich bin für alles verantwortlich, was ich mache.

Und da habe ich eben oft festgestellt: gerade die dogmatischen Knochen waren richtige Bürgersöhnchen. Hatten ein Erbe zu erwarten. Und änderten oft ihr Leben radikal, wenn sie es bekamen.

Mit Hanno habe ich viele Geschichten für Zeitschriften und viele Bücher gemacht, Kinder- und Jugendbücher mache ich jetzt alleine.

Die Nina, das Akademiemodell hab’ ich gerne gemalt. Schön war sie, aber eine Nervensäge. Hat immer von Stalin erzählt, ihrem Landsmann, einem Georgier und was er doch für ein toller Mann gewesen sei. Als wir in unserem revolutionären Impetus die Aktmalerei abgeschafft haben: >Um uns brennt die Welt und wir sollen individualistisch Aktzeichnen? Unmöglich!< da haben wir natürlich auch ihr geschadet.

Der Helmut Sturm, Professor an der Akademie, hat eine wichtige Rolle in der ganzen Bewegung gespielt. Er war eine Art grauer Eminenz, von uns allen anerkannt, von den anderen gefürchtet. Er war auch ein rabiater Hund.

Als wir einmal Plakate und Buttons verkauften, es gab ja einen ganzen linken Markt mit Büchern und T-Shirts, von irgendetwas musst du ja auch leben schließlich, da kam er einmal vorbei, hat vor uns auf den Boden gespuckt und hat gesagt: >Da würd’ ich ja lieber putzen gehen!<

Lieber putzen gehen als unsere Siebdrucke zu verkaufen! Da haben wir uns überlegt: Ganze Nächte schwätzt der durch von Revolution und so, radikal, kompromisslos und was tut seine Frau? Sie putzt tatsächlich.

Das war dieser eifernde Purismus: Kunst als Ware, pfui!, der damals viel kaputt gemacht hat.

Inzwischen ist auch der Sturm milder geworden.«

Rita Mühlbauer


Hella Schlumberger, Türkenstraße. Vorstadt und Hinterhof. Eine Chronik erzählt, München 1998, 404 ff.

Überraschung

Jahr: 1968
Bereich: Frauen

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