Flusslandschaft 1957
Kunst/Kultur
„… Dem Künstler bleibt nur der Trost, dass die Kunst den längeren Atem hat. Wer Neues schaffen will, muss mit der Feindschaft des Alten rechnen, und der vorwärts eilende Künstler sollte der Stei-
ne nicht achten, die ihm der Zeitgenosse nachwirft – aus ihnen wird man später sein Denkmal er-
richten. Wäre er nicht verkannt, so hätte er nicht, was er erstrebt: die Zukunft.“1
BILDENDE KÜNSTE
Die Künstlergruppe SPUR, Lothar Fischer (Germersheim), Helmut Sturm (Furth im Wald), Heimrad Prem (Roding) und HP Zimmer (Berlin), allesamt Absolventen der Münchner Kunst-
akademie, stellt zum ersten Mal im Herbst 1957 im Pavillon des Alten Botanischen Gartens aus. Die Gruppe besteht bis 1965, propagiert den „Widerstand gegen das Absurde“ und mischt die bayerische Kunstszene als selbst ernannte „Ent-Trümmerer der Welt“ und als provokante, ex-
zentrische Einforderer des „Nihilismus, des Irrtums, des Drecks“ auf. 1959 erklären sie sich zur deutschen Sektion der am 29. Juli 1957 in Cosio d’Arroscia gegründeten Situationistischen Internationale (SI), 1962 werden sie wieder ausgeschlossen.
Auf dem revolutionären Programm der SI steht die Abschaffung jeder Form von Repräsentation, also die Untergrabung jeder Autorität, die Zerstörung aller Machtsymbole, die Abschaffung der Kunst, die Rückgewinnung der in der Konsum- und Warengesellschaft enteigneten Lebenswirk-
lichkeit – kurzum der Kampf gegen die spätkapitalistischen Enteignung. Von 1960 bis 1962 wirkt Dieter Kunzelmann als Theoretiker in der Gruppe. Seit 1991 befindet sich das Museum S.P.U.R. in Cham. Dort sind Gemälde und Skulpturen der Gruppe zu sehen.
FILM
Die erste Nummer der „Filmkritik“ erscheint im Januar. Redakteur ist Enno Patalas, Mitarbeiter sind Wilfried Berghahn, Ulrich Gregor und Theodor Kotulla. In den folgenden Jahren prägt die Zeitschrift die Diskussion um feuilletonistische Kritik versus Ideologiekritik. 1984 erscheint das letzte Heft.
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Erstaufführung 1957, Graphik: E. Litter
Prüderie und Doppelmoral bedingen sich. Ein Film muss, will er Aufmerksamkeit und hohe Be-
sucherzahlen erreichen, erregen und gleichzeitig knapp vor der Grenze zum Unerlaubten stoppen. Dieser Drahtseilakt bringt seltsame Blüten hervor: Die vier Tänzerinnen oberhalb der Liste der Schauspielerinnen und Schauspieler tragen nachträglich schwarz eingefärbte Büstenhalter.
„… Wenn sich auf der Leinwand die Silhouette eines sterbenden Wilderers deutlich vor der unter-
gehenden Sonne abzeichnet, wissen wir, dass wir einen deutschen Film sehen. Und da es vorge-
kommen sein soll, dass dabei nicht nur die Herzen einiger Zuschauer, sondern sogar die Filmstrei-
fen selbst in Brand gerieten, war es ohne Zweifel nötig, ein Gesetz auszuhandeln, wonach dem Vol-
ke nur noch unbrennbare Filme vorgeführt werden dürfen. Die Leidtragenden dieses Gesetzes sind die deutschen Filmkunsttheater, denen es gelungen ist, hierzulande den Glauben an die Möglich-
keiten des guten Films zu bewahren, obschon sie nur ein knappes Prozent der deutschen Filmbüh-
nen ausmachen. Viele der Streifen, mit denen sie ihre Programme bestreiten, stammen noch aus der flammengefährdeten Zelluloid-Ära. Ihr Stündlein hat nun geschlagen: die unbrennbare För-
sterliesel auf Sicherheitsfilm verjagt den leicht entzündlichen Doktor Caligari aus seinem Kabinett. Das Unglücksgesetz ist unter Mitwirkung der Filmindustrie entstanden. Es wird kaum nachzuwei-
sen sein, dass sie schlimme Gedanken dabei hegte, nur weil sie schlechte Filme zu drehen pflegt. Als Trost bleibt nur, dass auch die Branche der Leinwandschnulze, die in der neuen „Ufa“ hoffent-
lich einen sittenverbessernden Konkurrenten erhält, ihre redlich verdiente Krise durchmacht. Zäh muss sie um Kredite betteln, um Gründe ist sie nie verlegen. Denn so primitiv, wie sich im Gehirn einiger Produzenten und Verleiher der Kinogänger spiegelt, sind sie selber keineswegs: Das Entree, das jener für sein flimmerndes Heidegrab entrichtet, erlaubt es diesen Märtyrern der Unkultur so-
gar, die Nationalökonomie gegen den Geschmack auszuspielen. Selbst der miserabelste Film avan-
ciert zum Wirtschaftsfaktor, man ist „Industrie“ … Die vier Dutzend kleinen Filmkunsttheater ha-
ben dem nichts entgegenzusetzen als ihren guten Willen. Möge er auf den Gesetzgeber übergehen und ihm in letzter Sekunde zur Einsicht, den Filmkunstbühnen aber zu einer tragbaren Ausnahme-
regelung verhelfen …“3
LITERATUR
Ein fast vergessener Schriftsteller wird 75 Jahre alt.4
„Sansibar oder der letzte Grund“ heißt das neue Buch des Münchners Alfred Andersch.5 Ein Schweizer Rezensent verreißt das Buch. Da wird Arno Schmidt sauer: „»In Schönheit aufgelöste Trauer« ??: Ich, 1 Deutscher, will Herrn Professor Doktor Muschg sagen, was Andersch’s großes Buch von Sansibar meiner Meinung nach ist: Eine, sachlich unwiderlegbare, Anklage gegen Deutschland. Eine Warnung an Alle. Unterricht in (ja fast Anleitung zur) Flucht als Protest. Vor-
zeichen einer neuerlichen, nur durch ein Wunder noch aufzuhaltenden Emigration aller Geistig-
keit (aber wohin heute?!). Ein Misstrauensvotum ersten Ranges gegen unser behäbig=aufgebla-
senes Volk. Kompositorisch ausgezeichnet; sprachlich bedeutend über dem Durchschnitt.“6
Alfred Andersch stellt im November seine seit 1955 erscheinende Literaturzeitschrift Texte und Zeichen aufgrund „marktwirtschaftlicher Erwägungen“ ein. Am Schluss des letzten Heftes dankt er den Leserinnen und Lesern: „Sie waren eine Minderheit in der Masse des geistigen Konformismus, der heute Deutschland beherrscht. Dass der Geist überhaupt lebt, hängt ausschließlich von der Exi-
stenz solcher Minderheiten ab. Der Minderheit … darf versichert werden, dass die Aufgabe, die sich in der Zeitschrift verkörperte, allen Widerständen zum Trotz in den mannigfaltigsten Formen wei-
tergeführt werden wird. Eine Zeitschrift ist eine sehr vergängliche Erscheinung in dem vielleicht sehr langen Leben jener Texte und Zeichen, denen zu dienen sie die Ehre hatte.“7
MUSIK
„… Ein besseres Echo fand Hans Knappertsbusch, der Liebling des süddeutschen Konzertpubli-
kums, als er kategorisch erklärte, er werde als Protest gegen den immer noch hinausgezögerten Wiederaufbau der Münchener Staatsoper im kommenden Festjahr (die Stadt begeht ihre 800-Jahrfeier) kein Münchener Dirigentenpodium betreten. Der massive Protest Knappertsbuschs hat den Verantwortlichen. gezeigt, dass man Kultur nicht mit leeren Redensarten ,macht’. Ob sie sich daran halten werden, ist eine zweite Frage. Vielleicht hängt die Antwort von der Häufigkeit solcher Proteste ab. In den Bezirken der Administration, gar in den Vorhallen gelderbewilligender Parla-
mente, lebt man nach harten Gesetzen. Und eins davon heißt: Treiben, um nicht vertrieben zu werden …“8
(zuletzt geändert am 27.5.2021)
1 Das Schönste. Die Monatsschrift für alle Freunde der schönen Künste 8 vom August 1957, München, 2.
2 Privatsammlung
3 Das Schönste. Die Monatsschrift für alle Freunde der schönen Künste 12 vom Dezember 1957, München, 2.
4 Siehe „Leonhard Frank 75 Jahre“.
5 Alfred Andersch, Sansibar oder der letzte Grund, Olten/Freiburg im Breisgau 1957.
6 Arno Schmidt, Das essayistische Werk zur deutschen Literatur in 4 Bänden. Sämtliche Nachtprogramme und Aufsätze, Zürich 1988, Bd. IV, 338.
7 Zit. in TransAtlantik. Die Literaturzeitschrift 3 vom März 1991, 116.
8 Das Schönste. Die Monatsschrift für alle Freunde der schönen Künste 11 vom November 1957, München, 3.