Materialien 1969

»Man wusste, dass das Knäste sind«

Ivo Bozic: Margit Czenki im Gespräch über antiautoritäre Erziehung in den siebziger Jahren und die heutige Debatte

Bekannt geworden ist sie als »die Bank-Lady«. Als 29jährige Kindergärtnerin stand sie am 13. April 1971 mit einem Trommelrevolver in der Hand in einem kurzen weißen Knautschlackmantel auf dem Tresen einer Münchner Bank und erbeutete zusammen mit dem späteren RAF-Mitglied Rolf Heißler 55.000 Mark »für die Bewegung«. Margit Czenki, so der Name der Räuberin, lebte damals in der legendären »Highfish-Kommune« in München, bis dort Uschi Obermeyer und Rai-
ner Langhans einzogen. Sie hatte 1969 den ersten antiautoritären Kinderladen Münchens gegrün-
det. Ein Jahr nach dem spektakulären Bankraub wurde sie verhaftet und verbrachte fünf Jahre im Gefängnis. Sie hat sich auch danach wieder der Arbeit mit Kindern gewidmet und zuletzt 1994 in Hamburg-St. Pauli ein Kinderhaus gegründet – für Kinder, die aus den verschiedensten Gründen kein Zuhause haben. Sie ist die Mutter des Goldene-Zitronen-Musikers Ted Gaier. In den achtziger Jahren wurde Margit Czenki als Filmemacherin bekannt. Als Künstlerin arbeitet die heute 68jähri-
ge unter anderem für den Hamburger »Park Fiction« am Hafen und entwickelte eine Installation dazu für die Documenta 11.

Sie sind als die Kindergärtnerin, die Banken ausraubt, bekannt geworden …

Eine Bank. In einem undogmatischen politischen Zusammenhang.

Inwiefern hat Ihre Arbeit mit Kindern in den sechziger und siebziger Jahren Ihr politisches Be-
wusstsein geprägt?

Das war wichtig für mich. Nirgends kannst du so schnell Veränderungen herbeiführen wie in der Arbeit mit Kindern, und nirgendwo ist alles immer so grundsätzlich. Kinder stellen dir jeden Tag sehr grundsätzliche Fragen, man muss sehr genau aufpassen, wie man antwortet und wie man handelt. Man muss jeden Tag die Welt neu erfinden, und deswegen hat mich das damals sehr be-
einflusst in meinem politischen Denken. Genauso meine Arbeit vorher in der Psychiatrie, wo man immer diese Gratwanderung erlebt: ein Schritt weiter und es ist nicht »normal«. Da macht man sich Gedanken über diese »Normalität«.

Warum war es aus Ihrer Sicht 1969 notwendig, einen antiautoritären Kinderladen zu gründen?

Das hatte ich ja überhaupt nicht vor, ich wollte weiter studieren. Aber es war alternativlos. Ich hat-
te selber einen Sohn in einen normalen Kindergarten gegeben, aber das hat er nicht ausgehalten dort. Es ging da nur um Ordnung, Sauberkeit, Disziplin. Die Kinder mussten zum Beispiel die Schuhe so hinstellen, dass die Spitzen eine gerade Linie bildeten. Es war ein ständiges Gängeln mit formalen Anforderungen. Mein Sohn Carol verstand das nicht, er war mit uns ganz anders aufge-
wachsen.

Sie lebten damals in der Highfish-Kommune?

Zuerst haben wir uns im Republikanischen Club getroffen, über Emanzipation diskutiert und aus diesen Debatten heraus den Kinderladen gegründet. Um die Ecke, mitten in Schwabing, war die Kommune, hauptsächlich aus Künstlern bestehend, da habe ich fünf Monate gelebt. Als Uschi und der Langhans kamen, bin ich dort ausgezogen. Für mich war die Kommune eine spannende Erfah-
rung, aber für Kinder gab es dort kein gutes Klima. Es waren immer haufenweise Menschen da, die sich ausgelebt haben, und die Kinder gingen dabei unter. Es gab auch andere Kommunen, aber bei uns war es zum Beispiel so: Wenn nachts alle bekifft waren, wurde einfach alles aufgegessen, was im Haus war, und dann fand man morgens zum Frühstück nichts mehr vor für ein Kind.

Sie selbst sind als Kind in eine katholische Nonnenschule gegangen. War das auch ein Beweg-
grund für Sie, später einen Kinderladen zu machen?

Politisch spielte das schon eine Rolle, für mich persönlich aber nicht. Obwohl ich dort auch ziemli-
che Horror-Erfahrungen gemacht habe. Als ich zwölf war, zum Beispiel, hatte ich mir von befreun-
deten Jungs ein Fahrrad geliehen – ein Herrenrad. Und nachher bestellte mich eine Nonne zum Rapport ein und stellte mir Fragen wie: Was machst du mit denen, haben die dich da und da an-
gefasst, wieso fährst du auf einem Herrenrad? Die unterstellten mir lauter merkwürdige sexuell konnotierte Dinge, die ich damals noch überhaupt nicht verstand, und bestraften mich für das Fah-
ren mit einem Herrenrad. Die haben ihre komischen Phantasien auf die Kinder projiziert, und das habe ich schon als gewalttätig erlebt, wenn auch nicht als direkte körperliche Gewalt.

Hatten Sie auch mit Heimkindern zu tun?

Ich war ja extern bei den Nonnen, aber man kannte das Internat, man hörte viel. Man wusste, dass das richtige Knäste sind mit Übergriffen jeder Art. Diese ganze Kinderladenbewegung war eine Re-
aktion darauf. Die Regel war damals einfach überall Zucht und Ordnung, Strafen das Prinzip der Erziehung. Erst durch die antiautoritäre Bewegung und die Apo hat man das alles kritischer gese-
hen. In München gab es etwa die Gruppe »Südfront«, die hat vor den Heimen Aktionen gemacht und Jugendliche aufgefordert abzuhauen. Und dann gab es in der Folge einige Kommunen von Ju-
gendlichen in München. Wir haben in unseren Wohngemeinschaften und Kommunen auch einzel-
ne Jugendliche untergebracht, die aus geschlossenen Heimen geflüchtet waren. Da ging auch viel schief, einige hätten etwas mehr Unterstützung nötig gehabt, als sie in den Kommunen erhalten haben.

Bei mir hat ein Jugendlicher gewohnt, der später eine Band gegründet hat und mit seinen Eltern alles hat aufarbeiten können. Damals kam immer jemand vom Jugendamt vorbei und hat geguckt, wie leben die denn da. Das ist ja okay, aber dann hat mir diese Tante vom Jugendamt regelmäßig unterstellt, dass ich den als meinen »Lustknaben« halten würde. Sie sagte so Sachen wie: »Sie müssen doch auch etwas davon haben, niemand macht doch so etwas, ohne einen eigenen Vorteil davon zu haben.« Dauernd wurden einem sexuelle Übergriffe unterstellt, und wir haben gesagt: »Hey, so etwas läuft in diesem und in jenem Heim, schaut mal da nach!« Aber da wurde nicht drauf eingegangen.

Die heute in Verruf geratenen Heime und Anstalten galten als korrekt, während man gerade den Antiautoritären den Missbrauch unterstellt hat?

Genau so war das. Wenn wir Gewalt in Heimen aufgedeckt haben, wenn wir zum Beispiel erklärt haben, weshalb ein Jugendlicher abgehauen ist, dann wurde darauf nicht eingegangen, und man hat im Gegenzug uns mit Verdächtigungen überzogen.

War denn die antiautoritäre Erziehungsarbeit in den sechziger und siebziger Jahren wirklich so gewaltfrei? Eine Auseinandersetzung um Pädophilie gab es ja schon.

Bei uns gab es ganz sicher keine sexuellen Übergriffe. Wenn man die Welt tatsächlich jeden Tag neu erfinden muss, weil die alten Muster und Regeln eingerissen werden und nicht mehr gelten können, macht man natürlich Fehler. Vorher wurde ja gar nicht gefragt: Was brauchen Kinder wirklich? Was brauchst du selbst? Das ist eine Gratwanderung, und manchmal eine Überforde-
rung. Wir haben uns mit allen Fragen auch der Sexualität sehr genau auseinandergesetzt. Ständig diese Dinge thematisiert, auch mit den Eltern.

Welche Rolle spielt es bei den gegenwärtigen Debatten um Missbrauch und repressive Erziehung, dass es oft um kirchliche Einrichtungen geht? Auch in Heimen in der DDR ist es offenbar zu Über-
griffen gegen Kinder gekommen.

Es ist ein prinzipielles Problem bei autoritären Einrichtungen, bei Kasernierung, man hat nur noch zusätzlich eine besondere Schwülstigkeit bei den Priestern und Nonnen. Deshalb werden solche Vorwürfe unter den Teppich gekehrt und tabuisiert. Aber es geht immer um Gewalt, Aggression, Regulierung des Glücks, rationierte Sinnlichkeit und Machtverhältnisse, und es wäre sinnvoller, über sexuellen Missbrauch in diesem strukturellen Zusammenhang zu diskutieren.

Ich habe den Verdacht, dass die Debatte, die in den Siebzigern nicht gewollt war, jetzt auch des-
halb auf einmal geführt wird, weil sich Politiker und Kirchen davon versprechen, den Wert der Familie wieder stärken zu können. Familie als die bessere Alternative zu Heimen und Ganztags-
betreuungen.

Das glaube ich nicht. Die Kirchen haben nichts freiwillig in Gang gebracht, und jeder weiß, die meisten Missbräuche finden nach wie vor in der Familie statt. Die Diskussion hat eine Eigendy-
namik gewonnen, auch durch die Bedürfnisse der vielen, die missbraucht wurden. Im Fahrwasser dieser Kritik und der Enthüllungen kochen andere ihr politisches Süppchen. Ich habe bis 1998 auf St. Pauli ein Kinderhaus mitgeleitet, in dem Kinder gelebt haben, die vor allem aus gewalttätigen Familien geflohen waren. In dem Heim wurden also Kinder vor der Familie geschützt. Aber auf der anderen Seite benutzen Familien das Heim auch als Drohung: »Wenn du jetzt nicht spurst, kommst du ins Heim.« Ein Zwiespalt. Alternative Lebensformen jenseits von Familien und Hei-
men, also Kommunen oder ähnliches, waren nie richtig akzeptiert. Sicher, da gibt es viele geschei-
terte Projekte, aber ich habe gute Erfahrungen damit gemacht.


Jungle World 15 vom 15. April 2010. – www.jungle-world.com/artikel/2010/15/40725.html

Überraschung

Jahr: 1969
Bereich: Kinder

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