Materialien 1969
„Ein Mann, der mit einem anderen Mann ...“
Eine kurze Geschichte des § 175 in der BRD
Am 17. März 2002 beschloss der Bundestag die juristische Rehabilitierung von Männern, die vor NS-Gerichten als Homosexuelle verurteilt worden waren. Durch eine Ergänzung des „Gesetzes
zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile“ wurden damit zumindest die rechtlichen Folgen von Urteilen aufgrund des Verbrechenstatbestandes der „Unzucht zwischen Männern“ aufgehoben und den Opfern, so diese es noch erleben konnten, ein Stück der lange verwehrten Anerkennung zugestanden.1 Urteile bundesdeutscher Gerichte in Sachen „Unzucht zwischen Männern“ hingegen blieben unangetastet und sind es bis heute. Diese Differenzierung verwundert, behielt doch der die Homosexuellen kriminalisierende Paragraph seine Wirkung auch nach dem Ende des „Dritten Reiches“ bei.
Für manche der Männer mit dem „Rosa Winkel“ endete ihre Verfolgung keineswegs mit dem 8. Mai 1945. Nach ihrer Befreiung aus den Konzentrationslagern durch die Alliierten gerieten einige wieder in Haft. Die Freiheitsstrafe nach dem weiterhin gültigen § 175 Strafgesetzbuch (StGB) galt noch nicht als verbüßt. Als Opfer gesellschaftlich weit verbreiteter, völkischer und religiöser Un-
wertvorstellungen blieben Homosexuelle vor allem in den ersten beiden Jahrzehnten der BRD weiter ausgegrenzt und kriminalisiert. Sicherheit verhieß manchen die „sexuellen Emigration“: dokumentiert sind zahlreiche Fälle von KZ-Überlebenden, die sich noch in den fünfziger und sechziger Jahren „freiwillig“ kastrieren ließen. Viele werden nach dem Grauen der Nazizeit den gesellschaftlich gewünschten Schlussstrich auch durch Rückzug oder Anpassung gezogen haben. Vom erlittenen Leid zu erzählen, Entschädigung zu verlangen oder gar politische Forderungen zu erheben, hieß in der Anfangszeit der neuen Republik, sich eines StGB-Verbrechens verdächtig zu machen und auf geheime „Rosa Listen“ der Polizei zu geraten.
Politisch stand die Diskussion um die Kriminalisierung der Homosexualität bis in die siebziger Jahre in engem Zusammenhang mit dem § 218 StGB. Den Beitrag bundesdeutscher JuristInnen
zu diesen Verhältnissen zeigt die Geschichte des „Homosexuellen-Paragraphen“ in der BRD.
Homosexuelle zu Verbrechern
Die Fassung des § 175 StGB, die in der Bundesrepublik bis 1969 fort galt, ging zurück auf das Jahr 1935. Eine Betrachtung der Geschichte des Paragraphen muss folglich dort ansetzen: Im Jahr, als neben den Nürnberger Rassengesetzen auch die nationalsozialistische „Strafrechtsnovelle“ verab-
schiedet wurde.
Die Nationalsozialisten setzten für den seit 1871 geltenden § 175 StGB („Widernatürliche Unzucht“) die Höchststrafe von sechs Monaten auf fünf Jahre Gefängnis herauf. Durch die Streichung des Adjektivs „widernatürlich“ wurde zudem die Beschränkung des Tatbestandes auf sog. beischlaf-
ähnliche Handlungen aufgehoben. So lautete ab 1935 der verschärfte § 175:
„Ein Mann, der mit einem anderen Mann Unzucht treibt oder sich von ihm zur Unzucht missbrau-
chen lässt, wird mit Gefängnis bestraft. Bei einem Beteiligten, der zur Zeit der Tat noch nicht 21 Jahre alt war, kann das Gericht in besonders leichten Fällen von einer Strafe absehen.“
Für den Begriff der „Unzucht“ lieferte das Reichsgericht die Definition. Danach konnte gestraft werden, wenn „objektiv das allgemeine Schamgefühl verletzt und subjektiv die wollüstige Absicht vorhanden [war], die Sinneslust eines der beiden Männer oder eines Dritten zu erregen.“ Eine gegenseitige Berührung erforderte dies nicht.2 Ein neu geschaffener § 175a StGB erfasste zudem
so genannte qualifizierte Fälle – die Ausnutzung von Zwängen, sexuelle Handlungen mit Männern unter 21 Jahren und die männliche Prostitution – und bedrohte sie als „schwere Unzucht“ mit Zuchthaus zwischen einem und zehn Jahren.
Kontinuität in den fünfziger Jahren
Als mit Inkrafttreten des Grundgesetzes (GG) die Bundesrepublik die Rechtsnachfolge des NS-
Staates antrat, übernahm sie nach Maßgabe von Art. 123 Abs. 1 GG auch diese Vorschriften. Straflos war die Homosexualität unterdessen in den meisten Ländern des romanischen Rechts-
kreises. Bereits der „Code Napoléon“ von 1810 hatte als Ergebnis der Französischen Revolution
die sittliche Verwerflichkeit von der rechtlichen getrennt und gleichgeschlechtliche Beziehungen legalisiert. Straflos war die Homosexualität außerdem in den Niederlanden, der Schweiz, Schweden und Dänemark.
Während einige deutsche RichterInnen auch mit Blick auf das Ausland arge Bedenken gegen § 175 geltend machten – so verurteilte 1951 das Landgericht Hamburg zwei homosexuelle Männer le-
diglich zu einer Ersatzgeldstrafe von 3 DM –, ging eine Prozesswelle durch Frankfurt. Zahlreiche Beschuldigte verloren ihre Stellung. Sechs Selbstmorde wurden bekannt. Von 1953 bis 1965 wurden in der BRD fast 100.000 Männer aufgrund von § 175 angeklagt, davon fast jeder zweite rechtskräftig verurteilt. Die Kriminalpolizei sprach dabei ganz offen von „karteimäßig erfassten Homosexuellen“3 und observierte Verdächtige.
Der Beitrag des BverfG
Klagen gegen die Fortgeltung der NS-Fassung des § 175 lehnte das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) rundweg ab. Der Straftatbestand sei „ordnungsgemäß erlassen und von den Mitgliedern der Rechtsgemeinschaft hingenommen“ worden und habe „seither jahrelang unangefochten bestanden.“
Auf die Verfassungsbeschwerde zweier Männer im Jahr 1955 erwiderte das BVerfG: „Von 1945 bis zum Zusammentritt des Bundestages herrschte in den westlichen Besatzungszonen so gut wie einhellig die Meinung, die Paragraphen 175 und 175a seien nicht in dem Maße ‚nationalsoziali-
stisch geprägtes Recht’, dass ihnen in einem freiheitlich-demokratischen Staate die Geltung versagt werden müsse.“
Eine solche „so gut wie einhellige Meinung“ lässt sich in historischen Dokumenten freilich keines-
wegs finden. Die Militärregierung der Alliierten hatte vielmehr sofort nach der Befreiung „Allge-
meine Anweisungen an die Richter“ erlassen, worin den Gerichten verboten wurde, von Rechts-
vorschriften Gebrauch zu machen, die nach dem Machtantritt der NSDAP strafverschärfend in Kraft getreten waren. Zwar fand sich die NS-Fassung des § 175 nicht auf einer Liste von Vorschrif-
ten, die durch „Gesetz Nr. 1“ der Militärregierung im Einzelnen für ungültig erklärt wurden. Der Entwurf für eine Neufassung des Strafgesetzbuches, den der alliierte Kontrollrat 1946 vorlegte,
sah jedoch eine Rückkehr zur vergleichsweise „liberalen“ Weimarer Fassung des § 175 vor. Eine Forderung, der weder die Rechtsprechung in dieser Zeit4 noch später die neuen Gesetzgeber nachkamen.
Gleichberechtigung kein Maßstab
Das BVerfG wies auch in der Sache alle Kritik an § 175 zurück. Gegen den Hinweis eines Klägers, die Kriminalisierung nur der männlichen Homosexualität verstoße gegen die Gleichberechtigung von Mann und Frau (Art. 3 Abs. 2 GG), wandte sich das Gericht – gestützt auf Sachverständigen-
gutachten – mit biologistischer Argumentation. „Der Grundsatz der Gleichberechtigung“ könne „für die gesetzgeberische Behandlung der männlichen und weiblichen Homosexualität keinen Maßstab“ abgeben, denn „auch für das Gebiet der Homosexualität rechtfertigen biologische Ver-
schiedenheiten eine unterschiedliche Behandlung der Geschlechter. […] Schon die körperliche Bildung der Geschlechtsorgane weist für den Mann auf eine mehr drängende und fordernde, für die Frau auf eine mehr hinnehmende und zur Hinnahme bereite Funktion hin.“ Anders als der Mann würde „die Frau unwillkürlich schon durch ihren Körper daran erinnert, dass das Sexual-
leben mit Lasten verbunden“ sei, was sich vor allem darin niederschlage, „dass bei der Frau die körperliche Begierde (Sexualtrieb) und zärtliche Empfindungsfähigkeit (Erotik) fast immer miteinander verschmolzen sind, während beim Manne, und zwar gerade beim Homosexuellen, beide Komponenten vielfach getrennt bleiben.“ Was nun die Lesben anbeträfe, so weise „der auf Mutterschaft angelegte Organismus der Frau unwillkürlich den Weg […] auch dann in einem übertragenen sozialen Sinne fraulich-mütterlich zu wirken, wenn sie biologisch nicht Mutter ist.“5
„Gesunde und natürliche Lebensordnung
Ebenso wenig wie den Gleichbehandlungsgrundsatz ließ das BVerfG das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG) gelten. Dieses finde seine Grenzen im „Sittengesetz“. Als Inhalt des ungeschriebenen „Sittengesetzes“ formulierte das Gericht die „gesunde und natürliche Lebensordnung im Volke“, konkret: Die Lehren der beiden großen christlichen Konfessionen. Von der im NS-Kommentar zum Unzucht-Begriff genannten „gesunden Volksanschauung“ war es da-
mit auch semantisch nicht weit entfernt.
Keine Abhilfe gegen die Kriminalisierung brachte die 1953 in Deutschland rechtskräftig gewordene „Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten“ (EMRK). Für Beschwerden gegen die §§ 175 und 175a wurden beim Europäischen Gerichtshof für Menschen-
rechte erst gar keine Verhandlungstermine gegeben. Die geltend gemachten Verstöße gegen Art. 8 (Recht auf Achtung der Privatsphäre) und Art. 14 (Diskriminierungsverbot) EMRK tat der Gerichtshof stattdessen bereits im Vorfeld ab – als „manifestement mal fondée“, offensichtlich unbegründet.6
Zur konsequenten Fortführung der Rechtslage von 1935 trug schließlich der Bundesgerichtshof (BGH) ein entscheidendes Detail bei. Anfang der fünfziger Jahre übernahm er die Unzucht-Definition des Reichsgerichts, womit eine Bestrafung als „175er“ auch weiterhin keine gegenseitige Berührung voraussetzte.7 Eingeschränkt wurde der Tatbestand lediglich durch die neue Betonung eines Wortes. Von Unzucht treiben im Sinne des § 175 könne nämlich, so der BGH, nur bei einer „gewissen Dauer und Stärke“ der Handlungen die Rede sein.8
In die so gewiesene Richtung folgten auch Gerichte anderer Rechtszweige. Das Berliner Verwal-
tungsgericht bestätigte 1957 die Praxis der Behörden, „den Führerschein solchen Bewerbern zu verweigern, die wegen begangener Sittlichkeitsdelikte vorbestraft sind“, und begründete dies mit der „Gefahr, dass sittlich labile Menschen leichter rückfällig werden, wenn sie über ein Kraftfahr-
zeug verfügen“.9
Repression und Reformbestrebungen
„Millionen innerlich gesunder Familien mit rechtschaffen erzogenen Kindern sind als Sicherung gegen die kinderreichen Völker des Ostens mindestens so wichtig wie alle militärischen Sicherun-
gen“, erklärte 1953 der erste Familienminister der BRD, Franz-Josef Wuermeling (CDU). „Nach den Erkenntnissen der Bevölkerungswissenschaft wird der zahlenmäßige Bestand der Elternge-
neration erst dann im gleichen Umfang ersetzt, wenn jede überhaupt fruchtbare Ehe drei Kinder hat.“10
Die Konsequenz hieraus hatte der Bundeskanzler schon zuvor klar ausgesprochen. Als Ziel seiner „Familienpolitik“ forderte Konrad Adenauer in seiner Regierungserklärung am 20. Oktober 1952 eine „konstante Zunahme der Geburten“ sowie eine „Stärkung der Familie und dadurch Stärkung des Willens zum Kind“.
Nicht zuletzt im sog. Sittenstrafrecht tauchte das Motiv dann auch häufig auf. So stand § 175 in einer Reihe mit strengen Scheidungsgesetzen, der staatlichen Kontrolle über die Verbreitung von Verhütungsmitteln und dem Abtreibungsverbot.
Bestrebungen gegen § 175 blieben in den fünfziger Jahren erfolglos. Die 1950 gegründete „Deut-
sche Gesellschaft für Sexualforschung“ fand mit ihrer Forderung nach Freigabe der einvernehm-
lichen Homosexualität zwischen Erwachsenen kaum Gehör. Zwar ist auch vom 39. Deutsche Juristentag (DJT) im Jahr 1951 offiziell die Forderung nach der Entkriminalisierung der sog. „einfachen“ Homosexualität ausgegangen. An der knapp ausgegangenen Abstimmung hierzu
hatte allerdings nicht einmal die zur Beschlussfassung notwendige Zahl von 30 Mitgliedern teilgenommen. Das „Signal“ blieb dementsprechend schwach.
Juristische Diskussion
Einen Überblick über die rechtswissenschaftliche Diskussion gab 1968 der ehemalige Berliner Justizsenator Jürgen Baumann in seinem Buch „Paragraph 175“. Er fasst die Ansichten unter JuristInnen in der Zeit zwischen 1945 und 1968 grob in drei Gruppen zusammen. Die erste Gruppe versuchte, ein von § 175 geschütztes Rechtsgut auszumachen, um damit die Bestrafung der Homo-
sexualität zu rechtfertigen. Die zweite Gruppe erkannte zumindest in der „nichtjugendgefährden-
den und nichtöffentlichen Homosexualität“ ein „opferloses“ Delikt und forderte daher konsequent dessen Abschaffung. Die dritte Gruppe ging davon aus, dass es für die Legitimität einer Strafvor-
schrift überhaupt nicht auf ein geschütztes Rechtsgut ankomme. Es sei nicht zu beanstanden, „ein sozialethisch besonders verwerfliches Verhalten, dessen Begehung uns unerträglich erscheint, unter Strafe zu stellen“, wobei insbesondere auf die Strafbarkeit der Tierquälerei und der Sodomie (§ 175b) verwiesen wurde.
„Warntafeln und Tabus“
Stets wiederkehrende Argumente der Befürworter des § 175 waren:
1. Das Strafrecht habe die Aufgabe, die Sittlichkeit aufrecht zu erhalten.
2. Die Normalität des Geschlechtslebens erfordere die Strafbarkeit anormaler Verhaltensweisen.
3. Die Gesellschaft habe ein Interesse an der Natürlichkeit des Geschlechtslebens ihrer Mitglieder.
4. Homosexualität sei eine Gefahr für die Volksgesundheit: sie zerrütte den Charakter des Einzelnen und habe in der Geschichte stets zum sozialen Verfall der betroffenen Völker geführt.
5. Homosexualität sei eine Gefahr für Ehe und Familie (als Grundlagen des Staates).
6. Durch homosexuelle Cliquenbildung drohe der Integrität des öffentlichen Lebens Gefahr.
7. Es sei eine Reklamewirkung auf Jugendliche zu befürchten.
8. Der Staat habe ein Interesse an dem Schutz der heterosexuellen Grundstruktur der Gesellschaftsordnung.
9. Das menschliche Sexualleben bedürfe generell einer Regulierung durch Normen; zur Aufrechterhaltung der Moral seien Warntafeln und Tabus nötig.
10. Das Verhältnis von Mann zu Mann sei im Interesse eines unbefangenen Freundeslebens von sexuellen Beziehungen rein zu halten.
Der Gesetzesentwurf 1962
Im amtlichen Entwurf eines neuen Strafgesetzbuches von 196211 (E 1962) fehlte kaum eines dieser Argumente. Darin schlug das Justizministerium zwar erstmals eine Absenkung der Höchststrafe für § 175 auf drei Jahre sowie eine Beschränkung des Tatbestandes auf „beischlafähnliche“ Hand-
lungen vor. Dies wäre immerhin die lange geforderte Rückkehr zur Weimarer Fassung gewesen. Aufkommende Zweifel an der weiteren staatlichen Ächtung der Homosexuellen räumte der amtli-
che Begründungstext dabei gründlich aus: „[…] denn nach Beseitigung der Strafbarkeit wäre ihre nächste Aufgabe, sich für die gesellschaftliche Anerkennung gleichgeschlechtlicher Handlungen einzusetzen. Dass sie dabei alle Möglichkeiten ausschöpfen würden, die ihnen das neue Strafgesetz bietet, unterliegt keinem Zweifel. Dass sie außerdem die Tatsache der Gesetzesänderung in ihrem Sinne deuten und zu der Behauptung ausbeuten würden, das Gesetz habe den gleichgeschlecht-
lichen Verkehr zwischen erwachsenen Männern anerkannt, ist wahrscheinlich.“
Gegen dieses erstaunlich realistisch erkannte Streben beschwor der Entwurf der Adenauer-Regierung die „sittenbildende Kraft des Strafgesetzes“. „Die von interessierten Kreisen in den letzten Jahrzehnten wiederholt aufgestellte Behauptung, dass es sich bei dem gleichgeschlechtli-
chen Verkehr um einen natürlichen und deshalb nicht anstößigen Trieb handele, kann nur als Zweckbehauptung zurückgewiesen werden. […] Wo die gleichgeschlechtliche Unzucht um sich gegriffen und großen Umfang angenommen hat, war die Entartung des Volkes und der Verfall seiner sittlichen Kraft die Folge.“12
Neben der unverhohlenen NS-Diktion dieser Begründungstexte stieß vor allem die vorgeschlagene Neufassung des sog. Sittenstrafrechts auf Empörung. Der Regierungsentwurf sah vor, sämtliche Straftatbestände mit Bezug zu Religion, Ehe oder „Sittlichkeit“ unter die neue Überschrift „Straf-
taten gegen die Sittenordnung“ zu fassen und durch Aufspaltung einzelner Tatbestände aus den bislang 28 nicht weniger als 47 Paragraphen zu machen. Angefangen mit Gotteslästerung reichte der Abschnitt über Ehebruch, das „Zugänglichmachen“ von Verhütungsmitteln und 17 verschie-
dene Straftatbestände mit dem Wort „Unzucht“ in der Überschrift („Anlocken zur Unzucht“, „Unzüchtige Schaustellungen“, „Unzüchtige Schriften und Sachen“) bis hin zu allein fünf Kuppelei-Paragraphen und einem zur Tierquälerei. Einmalig in Europa, sollte nun auch „Künstliche Samen-
übertragung“ unter Strafe gestellt werden, sofern nicht Samen des eigenen Ehemannes verwendet würde.
Der Gegenentwurf 1966
In Replik auf den E 1962 veröffentlichte eine Gruppe von 16 namhaften Strafrechtslehrern (darun-
ter Baumann, Hanack, Armin und Arthur Kaufmann, Lenckner, Roxin, Stratenwerth und Stree) ab 1966 einen Gegenentwurf. Dessen 1968 erschienener Teil zum Sexualstrafrecht sah als schutzbe-
dürftige Rechtsgüter nur die persönliche Freiheit und den Jugendschutz an. „Das Strafrecht kann gerade im Sexualbereich auch allgemein-moralische Zustände nicht um ihrer selbst Willen schüt-
zen, ohne seine Funktion als äußerstes Mittel der Sozialpolitik zu verkennen und ohne den Bürger in bedenklicher Weise zu bevormunden.“13
Auf dem 47. DJT im Jahr 1968, dessen strafrechtliche Abteilung sich ausschließlich mit der Reform des Sexualstrafrechts befasste, geriet Prof. Lackner mit seinem Verweis auf die „heterosexuelle Struktur der Gesellschaft“ als „Postulat der einfachen Sozialmoral“ dann bereits in die Defensive. Auf die Frage, wieso diese erhalten bleiben müsse und was man sich darunter überhaupt vorzu-
stellen habe, erklärte Lackner, er habe nicht davon gesprochen, dass die heterosexuelle Struktur der Gesellschaft etwas Erstrebenswertes sei, das erhalten werden müsse. Auch er verurteile die „Verketzerung“ der Homosexualität. „Aber gerade aus dieser Tatsache ergibt sich, dass für die Gesellschaft ein Interesse daran besteht, dem einzelnen Minderjährigen, soweit das möglich ist, das Schicksal, Homosexueller zu werden, zu ersparen.“14
StGB-Reform 1969
Am 25. Juni 1969 wurde, kurz vor Ende der Großen Koalition unter Kiesinger, das Erste Gesetz zur Reform des Strafrechts verabschiedet und damit der § 175 zum ersten Mal seit 34 Jahren geändert. Maßgeblichen Anteil hieran hatte der sozialdemokratische Justizminister und spätere Bundesprä-
sident Gustav Heinemann. Unter Strafe gestellt waren nach der Reform nur noch die sog. quali-
fizierten Fälle, die zuvor von § 175a erfasst worden waren. Wie dieser entfiel nun auch § 175b (Sodomie). Die einfache „Unzucht“ definierte sich nun über eine „doppelte Schutzaltersgrenze“. Täter eines solchen Vergehens konnte nur ein Mann über 18, Opfer nur ein Mann unter 21 Jahren sein. Dies führte zu merkwürdigen Fallgruppen: Wenn beide Männer über 21 oder unter 18 Jahren alt waren, wurde keiner bestraft. War ein Mann über 21, der andere unter 21 Jahren alt, so wurde nur der Ältere bestraft. Wenn beide zwischen 18 und 21 Jahren alt waren, machten sich beide strafbar.
Ein Bielefelder Richter kommentierte: „Man male sich die Folgen aus: Zwei gleichaltrige Freunde dürfen gleichgeschlechtliche Beziehungen miteinander pflegen, bis sie achtzehn Jahre alt werden, dann müssen sie drei Jahre pausieren, und nach Vollendung des 21. Lebensjahres dürfen sie ihre Beziehungen wieder aufnehmen. […] Man darf vermuten, dass der Gesetzgeber auf kaltem Wege das heiß umstrittene Sonderrecht für die Bundeswehr einschmuggeln wollte. So aber geht es nicht!“15
Strafrecht unter neuen Vorzeichen
Im November 1973 wurde schließlich auch diese Regelung verworfen und die Straflosigkeit ab dem 18. Lebensjahr eingeführt. Der Ausdruck „Unzucht zwischen Männern“ verschwand aus der Über-
schrift zu § 175 und wurde durch „Homosexuelle Handlungen“ ersetzt. Das Kapitel des StGB zum Sexualstrafrecht wurde umbenannt von „Verbrechen und Vergehen wider die Sittlichkeit“ in „Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung“. Unter diesen neuen Vorzeichen des Rechts-
güterschutzes erschien dem Gesetzgeber die Aufrechterhaltung eines eigenen Homosexuellen-
Paragraphen dennoch mit der Wertung begründbar, Jugendliche besäßen zwar mit 16 die Reife, sich frei und selbst bestimmt für das andere Geschlecht, jedoch erst mit 18 für das eigene zu entscheiden.
Obwohl die Parlamentarische Versammlung des Europarates die Mitgliedsländer der EU im Jahr 1981 anhielt, „für homosexuelle und heterosexuelle Handlungen das gleiche Mindestalter gelten zu lassen“, obwohl der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Jahr 1983 dieselbe Forderung erhob und auch das Europäische Parlament sie im Jahr darauf wiederholte, nahm die Geschichte des § 175 in der BRD erst einige Jahre später und auf gänzlich unspektakuläre Weise ein Ende.
Der Bundestag hatte im Zuge der Rechtsangleichung zwischen den beiden deutschen Staaten nach 1990 zu entscheiden, ob der § 175 nun gestrichen oder auf die östlichen Bundesländer ausgeweitet werden sollte. In der DDR war seit 1957 niemand mehr wegen „einfacher“ Homosexualität verur-
teilt worden. Die letzte Sondervorschrift für Homosexuelle war aber erst 1989 aus dem DDR-Straf-
gesetzbuch gestrichen worden.
1994, mit Ablauf der Frist für die Rechtsangleichung, entschied sich der Deutsche Bundestag für den Wegfall des Paragraphen. Von der Öffentlichkeit fast unbemerkt verschwand so § 175 aus dem Strafgesetzbuch.
Ron Steinke
studiert Jura in Hamburg
Literatur:
Schulz, Christian, § 175 (abgewickelt): … und die versäumte Wiedergutmachung, 1998.
Stümke, Hans Georg / Finkler, Rudi, Rosa Winkel, Rosa Listen: Homosexuelle und „gesundes Volksempfinden“ von Auschwitz bis heute, 1981.
Stümke, Hans-Georg, Homosexuelle in Deutschland: Eine politische Geschichte, 1989.
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1 Näher hierzu: Löhr, Tillmann, NS-Urteile gegen Wehrmachtsdeserteure und Homosexuelle aufgehoben, Forum Recht 2002, 103.
2 RGSt 73, 78, 80 f.
3 Kriminalinspektor Herbert Kosyra, Die Homosexualität – ein immer aktuelles Problem, Kriminalistik 1962, 113.
4 OLG Frankfurt, Neue Juristische Wochenschrift (NJW) 1949, 232; OLG Düsseldorf, Monatsschrift für Deutsches Recht (MDR) 1948, 59 ff mit zahlreichen weiteren Nennungen.
5 BVerfGE 6, 389 ff.
6 COM 104/55, Yearbook I (1955, 56, 57), 228 f; COM 530/59, Yearbook III (1960), 255, 257.
7 BGHSt 4, 323, 324; BGH NJW 1954, 519.
8 BGHSt 1, 293.
9 Zitiert nach Stümke 1989, 138.
10 Zitiert nach Stümke 1989, 140.
11 Entwurf eines StGB E 1962 mit Begründung, Deutscher Bundestag, 4. Wahlperiode, Drucksache IV/650.
12 A.a.O., 377.
13 Alternativentwurf eines StGB, Besonderer Teil, Sexualdelikte, 9.
14 Sitzungsbericht K des 47. DJT, 102.
15 Ostermeyer, Helmut, Ist der neue § 175 StGB verfassungswidrig? Zeitschrift für Rechtspolitik 1969, 154.
mehr Theorie wagen. Ansätze der Rechtskritik, 2/2005, 60 – 63.