Materialien 1969

Baden nur für Reiche

GESELLSCHAFT

„Irgend etwas ist faul im Staate Bayern“, spürte Otto Ammer. Unter strahlend blauem Himmel hatte er Wochenende um Wochenende eingepfercht zwischen anderen Badegästen auf seinem schmalen Handtuch an Bayerns Seen gelegen. Vorn ein Zipfel Wasser, die Füße des sonnenhungrigen Nachbarn in den Kniekehlen, den Liegestuhl des Hintermannes im Kreuz. Beunruhigt schwang sich der 53jährige – sonst friedliche – Elektriker aus Augsburg auf sein Fahrrad und strampelte 350 Kilometer rund um die 20 größten bayerischen Seen.

Was er danach ans Licht der Öffentlichkeit zerrte, stürzte Ministerien in Verwirrung und hetzte schläfrige Landtagsabgeordnete auf die Barrikaden. Bewaffnet mit Kompass, Kilometerzähler und Fernglas hatte Otto Ammer nämlich das Übel nicht nur geortet, sondern auch gleich wacker lauthals beim Namen genannt. „Baden“, so erklärte er empört, „können an Bayerns Seen allein die Reichen. Für uns ist da kein Platz mehr!“

Auf 20 säuberlich ausgearbeiteten „Situationskarten“ unterbreitete er schwarz auf weiß das Beweismaterial. Die 20 Seen, die er umkurvte, haben eine Gesamtuferlänge von 430 Kilometern. Davon waren183 Kilometer als Privatufer oft bis in den See hinein eingezäunt, 104 Kilometer sind unzugängliches Schilfufer, 8 Kilometer Steilufer und nur ganze 135 Kilometer offene Gemeindeufer.

Die Topographie zeigte deutlich, was gewöhnlich die Fremdenverkehrs-Werbung mit Sprüchen wie „Ein traumhaftes Badeparadies inmitten gigantischer Berge“ oder ähnlichem kaschiert. Die Regierung hatte zugunsten wohlhabender Privateigentümer versäumt, der Bevölkerung den Zugang zu den Ufern freizuhalten.

Der Artikel 141 Absatz 3 der „Bayerischen Verfassung“ geriet ins Wanken. Heißt es doch in ihm: „… Staat und Gemeinde sind berechtigt und verpflichtet, der Allgemeinheit die Zugänge zu den Bergen, Seen, Flüssen und sonstigen landschaftlichen Schönheiten freizuhalten.“ Ein Skandal bahnte sich an.

Unverzüglich schickte die „Münchner Abendzeitung“ Journalisten ins „Katastrophengebiet“. Kommentar der Journalisten: „Beschauliche Stunden am Wochenende, ein gemütliches Sonntagsfrühstück auf einer Terrasse am See und ein anschließend kühles Bad: Davon können Bayerns ,Normalbürger’ wirklich nur träumen.“

Mit bissigem Humor erklärten die Einheimischen vom Pilsen- und Wörthsee, den zwischen den Verbotsschildern „Achtung! Privatgrundstück. Betreten strengstens verboten!“ slalom-tanzenden Reportern und Pressefotographen: „Kaufen Sie sich eine Ansichtskarte, wenn Sie vom Wörthsee etwas sehen wollen!“

Und Bürgermeister Porzel von Steinebach am Wörthsee ergänzte im schönsten Bayerisch: „Dös is bei uns wirklich a Skandal, mir san am See und kenna net hi!“ Resigniert erklärte er den verdatterten Journalisten, dass die Gemeinde gern von ihrem Vorkaufsrecht bei Ufergrundstücken Gebrauch gemacht hätte, Graf Toerring, der Besitzer des Wörth- und Pilsensees, habe jedoch einen Quadratmeterpreis gefordert, der für die Gemeinde untragbar sei. Der Preis: 5000 bis 7000 DM.

In der Tat: Graf Toerring lebt auch heute noch wie ein Feudalherr. Allein sein Campingplatz am Pilsensee dürfte nach Schätzungen der „Abendzeitung“ eine recht einträgliche Sache sein: 1000 Campingzellen mit 108 Quadratmetern sind an Dauermieter vergeben. Jahresmiete 240,- DM. Für die Badekarte müssen die Mieter zusätzlich 12,- DM blechen.

Alarmiert durch die Berichte wurde die SPD-Fraktion munter. Unverzüglich nahm sie den Grafen ins Fadenkreuz. Unter der Überschrift: „Neuer Schacher mit Seegrundstücken!“ veröffentlichte die Sozialdemokratische Pressekorrespondenz die neueste Masche des Grafen: „Graf Toerring, der eine Brauerei betreibt, gibt sich jetzt ,arbeiterfreundlich’. Sein neuer Trick: er will Betrieben Seegrundstücke billig vermieten. Einzige Auflage: die Betriebskantinen dürfen ab sofort nur noch sein Bier ausschenken!“

Doch nicht nur am Wörth- und Pilsensee liegt vieles im argen. Nicht anders als dort sieht es am Ammersee, Starnberger See usw. aus. Irritiert entsandte Landwirtschaftsminister Eisenmann Fachleute, die in Kürze über die Zugänglichkeit der bayerischen Seeufer berichten sollen. Die Eile ist nur zu gut verständlich. Viele der Grundstücke gehören namhaften CSU/CDU-Mitgliedern. Die Wahl steht auf der Schwelle, und schon hat sich unter Vorsitz des SPD-Landtagsabgeordneten Kaub ein Verein konstituiert: „Freier Zugang zu den Seen!“

Verbittert äußerten sich Bayerns Bürger in Leserbriefen: „Wenn der Otto Ammer nicht losgeradelt wär’, hätte doch kein Hahn danach gekräht!“ „Er hat das übel erstrampelt“, lautete eine Zuschrift, „ich bin kein Bayer. Doch ich glaube, dieses Übel grassiert nicht nur an bayerischen Seen!“

Guy von Auer


konkret. Monatszeitung für Politik und Kultur 18 vom 25. August 1969, 48.

Überraschung

Jahr: 1969
Bereich: Umwelt

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