Flusslandschaft 1958
Frieden/Abrüstung
Der EWG-Vertrag und der Vertrag über die Bildung der Europäischen Atomgemeinschaft
treten am 1. Januar in Kraft.
Am 21. Februar 1958 beschließen eintausendfünfhundert Studentinnen und Studenten einen Antrag zum Aufruf gegen Atomwaffen und für eine Beendigung der Atombombenversuche. Mit knapper Mehrheit wird eine Volksabstimmung zur Schaffung atomwaffenfreier Zonen abgelehnt. Siehe auch „Bürgerrechte“.
An Ostern organisiert die britische Campaign for Nuclear Disarmament einen Marsch von London zum Atomforschungszentrum Aldermaston und demonstriert dabei mit rund zehntau-
send Menschen gegen die nukleare Aufrüstung. Hieraus entwickelt sich eine Tradition solcher Demonstrationsmärsche zu Ostern in verschiedenen westeuropäischen Ländern und auch in München.
14. März: „Ausgestorben – zu viel Panzer, zu wenig Hirn“ steht auf einem Plakat der Internatio-
nale der Kriegsdienstgegner (IdK). Daneben ist ein Dinosaurier zu sehen. Auf der Rückseite des Plakates steht: „Wer sein Gewissen fragt, weiß, dass er den Wehrdienst verweigern muss.“ Das Amtsgericht verfügt seine Beschlagnahme, da es hier eine Verunglimpfung der Bundesrepublik erkennt. Das Oberlandesgericht München weist eine Eingabe gegen die Beschlagnahme zurück. Daraufhin legt die IdK Verfassungsbeschwerde in Karlsruhe ein. Am 27. März hebt das Landge-
richt München die Beschlagnahmeverfügung auf.
Am 23. März erfolgt unter Federführung von SPD und DGB die Gründung des Aktionsausschusses „Kampf dem Atomtod“. Doch weder die breite Ablehnung innerhalb der Bevölkerung noch die von Einzelpersonen, pazifistischen Organisationen, der evangelischen Kirche, den Gewerkschaften und der SPD mitgetragenen großen Massenaktionen im Jahr 1958 vermögen einen Aufrüstungsbe-
schluss des Bundestages am 25. März 1958 zu verhindern oder rückgängig zu machen.
Am 31. März konstituiert sich das Komitee gegen Atomrüstung. Vorsitzender wird Hans Werner Richter, zu seinen Stellvertretern werden Christian Mayer (alias Carl Amery) und Karl-Heinz Stauder gewählt. Dem Vorstand gehören u.a. der bayerische SPD-Vorsitzende Waldemar von Knoeringen, der DGB-Landesbezirksvorsitzende Ludwig Linsert und die FDP-Landtagsabge-
ordnete Hildegard Brücher an. lm Beirat sind Inge Aicher-Scholl, Ingeborg Bachmann, Willi Birkelbach, Werner Bockelmann, Heinz von Cramer, Günter Eich, Gertrud von le Fort, Helmut Gollwitzer, Robert Graf, Olaf Gulbransson, Ursula Herking, Walter Jens, Erich Kästner, Wolfgang Koeppen, Fritz Kortner, Ruth Leuwerik, Loriot, Martin Niemöller, Hans Quest, Hans Schweikart, Klaus Stephan, Gerhard Szczesny und andere vertreten. Am 1. April erscheint in der Zeitschrift Die Kultur ein von Hans Werner Richter initiierter „Aufruf gegen die Atombewaffnung der Bundes-
wehr“. Unterzeichnet haben unter anderem Ilse Aichinger, Alfred Andersch, Günter Eich, Hans Magnus Enzensberger, Peter Härtling, Helmut Heißenbüttel, Wolfgang Hildesheimer, Walter Jens, Erich Kästner, Wolfgang Koeppen, Erich Kuby, Siegfried Lenz, Ernst Rowohlt, Peter Rühmkorf, Ernst Schnabel, Wolfdietrich Schnurre, Franz Schonauer, Martin Walser und Wolfgang Weyrauch. Das Komitee plant unter anderem eine Volksbefragung gegen die Atombewaffnung der Bundes-
wehr.
„18. April: Nach einem von der IdK veranstalteten Autokorso, bei dem zweihundert Personen-
wagen mit ‚Kampf dem Atomtod’-Transparenten durch die Innenstadt von München fahren, versammeln sich am Abend mehrere tausend Menschen zu einer Kundgebung des Komitees gegen Atomrüstung im Circus-Krone-Bau. Da die Halle nur viertausend Zuhörern Platz bietet, müssen trotz kühler Witterung über sechstausend Menschen die von Lautsprechern übertragene Veran-
staltung im Freien mitverfolgen. Als Redner treten der Landesvorsitzende der SPD, Waldemar von Knoeringen, der bayerische DGB-Landesvorsitzende Ludwig Linsert, die FDP-Landtagsabgeord-
nete Hildegard Brücher, der Publizistik-Professor Walter Hagemann, der Mitbegründer der Grup-
pe 47, Hans Werner Richter, der Präsident des bundesdeutschen PEN-Zentrums, Erich Kästner, der Physikprofessor Georg Joos, der Mediziner Dr. Karl-Heinz Stauder und – als Vertreterin vom Liberalen Studentenbund Deutschlands (LSD) und vom Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) – die Studentin Erika Runge auf. In seiner Eröffnungsrede verkündet Hans Werner Richter stolz: ‚In dieser Stunde protestiert mit uns fast das gesamte geistige Deutschland.’ Außerdem kann er Grußbotschaften des Schweizer Schriftstellers Max Frisch, des italienischen Filmregisseurs Roberto Rosellini sowie des französischen Philosophen und Dramatikers Jean-Paul Sartre verle-
sen, die eine internationale Resonanz der bundesdeutschen Anti-Atomtod-Bewegung bezeugen. Im weiteren Verlauf des Abends ruft Waldemar von Knoeringen mit ähnlichem Tenor wie Richter zu einer ‚Offensive der Freiheit gegen den Geist der totalitären Macht’ auf, was sich auch in dem zum Abschluss der Veranstaltung verlesenen Aufruf des Komitees niederschlägt: ‚Wir können nicht glauben, dass über das Fortbestehen der Menschheit Minister und Generale allein entscheiden dürfen und gegen den Rat und die verzweifelten Warnungen der Naturwissenschaftler, Theologen und Philosophen. Wir glauben nicht, dass die Politik jetzt und für alle Zukunft der Moral befehlen kann, zu schweigen. Wir rufen alle deutschen Bürger auf, einzusehen, dass unsere Soldaten nie-
mals ihr Volk mit Waffen verteidigen können, deren Anwendung sie mitschuldig am Untergang aller Völker werden lässt. Wir bitten unsere Abgeordneten, ihr Gewissen zu prüfen und die War-
nungen der Sachverständigen zu hören. Wir beschwören unsere Regierung, nicht die parlamenta-
rische Demokratie in Misskredit zu bringen.’ In einem Schweigemarsch ziehen die meisten Teil-
nehmer anschließend zum Platz der Opfer des Nationalsozialismus. Dort besteigt ein Komiteespre-
cher das Dach eines Autos und ruft den in nächtlicher Kälte Versammelten über Lautsprecher zu: ‚Das gute Gewissen wird letzten Endes den Sieg davontragen!’ In den darauffolgenden zehn Wochen veranstaltet das Münchner Komitee gegen Atomrüstung mit ähnlicher Rednerbesetzung Kundgebungen in allen bayrischen Groß- und vielen Mittel- und Kleinstädten.“1
Am 19. April 1958 finden Demonstrationen in Hamburg, Bremen, Kiel, München, Mannheim, Dortmund und Essen statt. – Am 30. April kommt es zu Haussuchungen in der Geschäftsstelle
des Komitees gegen Atomrüstung sowie bei Hans Werner Richter und dem Buchhändler Ernst Ludwig, da eine „polizeilich nicht genehmigte Geldsammlung“ durchgeführt worden sei. Das Komitee hatte allerdings am 6. April einen Antrag gestellt. Der war am 29. April mit der Begrün-
dung abgelehnt worden, das Komitee erfülle keinen „gemeinnützigen Zweck“. Beim Ersten Mai wird gegen die polizeilichen Durchsuchungen protestiert. Richter, Mitbegründer der Gruppe 47, droht mit Widerstand, wie es ihn in Bayern noch nicht gegeben habe.
„Aus unseren Gewerkschaftsversammlungen der letzten Monate kann die Beobachtung mitge-
nommen werden, dass in den Diskussionen immer häufiger gerade junge Kollegen sich gegen das Atomrüsten wenden. Es ist aber auch die Beobachtung zu machen, dass solche Hinweise mit dem heute üblichen Konformismus beifällig zur Kenntnis genommen werden, um dann unter den Tisch zu fallen. Otto Reitberger, München“2 Dabei wird der drohende Atomkrieg nichts, aber schon gar nichts zurücklassen. Selbst die Tröstungen der Mutter Kirche werden nach ihm ausbleiben.3
Die Bundesregierung erreicht beim Bundesverfassungsgericht am 12. Juni ein Urteil, dass die vom Komitee geplante Volksbefragung illegal sei. Dieses Urteil, der überwältigende Wahlerfolg der CDU bei den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen am 6. Juni, die Gegenstrategie der Regierung (die die Kampagne als kommunistisch gesteuert denunziert und damit zum Sicherheitsrisiko gestem-
pelt hat) sowie das nachlassende Interesse nach der Bundestagsentscheidung führen schließlich dazu, dass sich die SPD langsam aus der Kampagne zurückzieht.
Am 15. Juni tagt der Ständige Kongress aller Gegner der atomaren Aufrüstung in der Bundesre-
publik in Gelsenkirchen. Der Münchner Universitätsprofessor Aloys Wenzl schickt ein Grußwort.4
Verteidigungsminister Franz Josef Strauß meint: „Der Besitz von Atomwaffen ist eine sittliche Aufgabe, um den unsittlichen Gebrauch dieser Waffen auszuschließen.“5
Am 24. Juni versammeln sich über sechstausend Menschen auf dem Königsplatz. Auf einem PKW ist ein großes Schild befestigt, auf dem zu lesen ist: „Wer noch einmal ein Gewehr in die Hand nehmen will, dem soll die Hand abfallen. FJ. Strauss 1949. Absolut gegen eine deutsche Wehr-
macht. Th. Heuss 1949. Fest entschlossen, die Entmilitarisierung aufrechtzuerhalten. Adenauer 1949“ Die Redner gehen auf das direkt neben ihnen hoch gehaltene Transparent „Generalstreik verhindert Atomrüstung“ nicht ein.6 Auf dem Professor-Huber-Platz, dem Ort der Schlusskund-
gebung, soll eine sieben Tage und Nächte dauernde Atom-Mahnwache stattfinden. Mitglieder des Rings Christlich-demokratischer Studenten (RCDS), Korporierte und ungarische Exilstudenten beschimpfen die Demonstranten und versuchen deren Transparent „Studenten stehen gegen Atomrüstung“ herunterzureißen. Daraufhin erklären sich viele Prominente bereit, sich ebenfalls jeweils eine Stunde an der Mahnwache zu beteiligen. Es sind dies die FDP-Landtagsabgeordnete Hildegard Brücher, der ehemaligen Panzertruppengeneral Moritz Faber du Faur, der Schauspieler Ernst Fritz Fürbringer, der Karikaturist Olaf Gulbransson jr., der Schriftsteller Hugo Hartung, der Universitätsprofessor Herbert Hohenemser, der Schriftsteller Erich Kästner, der Gewerkschaftler Ludwig Koch, der Publizist Erich Kuby, die Schauspielerin Elfriede Kuzmany, der Rechtsanwalt Walter Lidl, der Schriftsteller Carl Amery, der Schauspieler Rudolf Vogel und der ehemalige Ober-
bürgermeister von Ulm, Robert Scholl. Der 67-Jährige ist der Vater der von den Nazis wegen ihrer Zugehörigkeit zur Widerstandsgruppe „Die weiße Rose“ 1943 hingerichteten Studenten Sophie und Hans Scholl. Tagsüber versammeln sich bis zu hundert Passanten an der Mahnwache, um mit Studenten und Prominenten zu diskutieren. Die Wachehaltenden werden von Anwohnern mit heißen Getränken versorgt. Ein Verkehrspolizist hilft einem Studenten dabei, seine vom Regen durchnässte Fackel wieder zu entzünden.7
Am 24. Juli verweigert das Münchner Kreisverwaltungsreferat dem Komitee gegen Atomrüstung eine für den 6. August geplante Mahnwache vor der Feldherrnhalle in der Maxvorstadt. Der von vielen Touristen besuchte Platz werde durch diese symbolische Aktion in seinem eigentlichen Zweck, als Sehenswürdigkeit der bayerischen Landeshauptstadt zu dienen, beeinträchtigt.
Am 30. Juli erklärt das Bundesverfassungsgericht die Volksbefragung zur Atombewaffnung für verfassungswidrig.
„10. November: Auf dem Stachus in München stellt sich der Publizist Robert Jungk, der vor allem durch sein 1956 erschienenes Buch ‚Heller als tausend Sonnen – Das Schicksal der Atomforscher’ bekannt geworden ist, den Fragen von Passanten zur Atombewaffnung. Das Komitee gegen Atom-
rüstung hat auf dem verkehrsreichsten Platz Europas eine Atommahnwache aufgestellt. Von einem Kiosk aus verteilen Mitglieder des Komitees, der IdK und verschiedene andere Organisationen Auf-
klärungsmaterial über die Gefahren der Atomrüstung. Die größte Anziehung auf die Vorüberge-
henden übt eine Deutschlandkarte aus, auf der mit Leuchtfarben die verheerenden Auswirkungen nach dem Abwurf einer Wasserstoffbombe – wie er im Rahmen eines NATO-Manövers für die Bundesrepublik simuliert worden ist – sichtbar gemacht worden sind. Neben Portraits der Pazifi-
sten Albert Einstein, Bertrand Russell und Albert Schweitzer ist auch das Photo einer Japanerin zu sehen, deren Haut durch radioaktive Strahlung zerstört worden ist. Darunter ist zu lesen: ‚Wer nach Ereignissen von Hiroshima und Nagasaki immer noch für eine Rüstung mit Atomwaffen eintritt, der sollte acht Tage im Krankenhaus von Kitamaru leben. Ist er dann von seinem Wahn-
sinn nicht geheilt, dürfte er kein Mensch sein.’ Der fünfundvierzigjährige Jungk spricht am selben Tag auch noch auf einer Kundgebung des Komitees gegen Atomrüstung.“8
Dezember: „Noch unter dem Eindruck einer Reise nach Hiroshima sagte der Vorsitzende des DGB-Landesbezirks Bayern, Ludwig Linsert, auf einer Mitgliederversammlung des Komitees gegen Atomrüstung: ‚Nach dem, was ich dort gesehen habe, müsste die Atombombe aus jedem menschlichen Denken verbannt werden.’ Derjenige, der sage, er wolle mit der Atombombe die Kultur retten, habe die Kultur schon verraten, wenn er an die Anwendung solcher Bomben denke. Als Hauptredner setzte sich der Schriftsteller Erich Kuby9 mit den Ausführungen auseinander, die Bundesverteidigungsminister Franz Josef Strauß vor wenigen Tagen im Deutschen Fernsehen während eines Diskussionsabends machte.“10
Das Engagement der Bewegung Kampf dem Atomtod hat sicher nicht das erreicht, was angestrebt wurde. Immerhin ist aber die BRD heute (2011) keine Atomstreitmacht.
Siehe auch „Kunst/Kultur“.
1 Wolfgang Kraushaar, Die Protest-Chronik 1949 — 1959. Eine illustrierte Geschichte von Bewegung, Widerstand und Utopie. 4 Bde., Hamburg 1996, 1851 f.
2 Metall. Zeitung der IG Metall für die Bundesrepublik Deutschland 11 vom 28. Mai 1958, 12.
3 Siehe „Hymne auf Bundesebene“ von Ludwig Kusche.
4 Siehe „Prof. Dr. Aloys Wenzl, München, an den ‚Ständigen Kongress’“.
5 Das freie Wort vom 21. Juni 1958, zit. in Klaus Staeck (Hg.), Einschlägige Worte des Kandidaten Strauß, Göttingen 1979.
6 Fotos: Stadtarchiv Standort ZB-Ereignisfotografie-Politik-Demonstrationen.
7 27 Fotos: Anti-Atom-Kundgebung am 24. Juni 1958, Standort: Archiv der Münchner Arbeiterbewegung, Mappe 14a.
8 Wolfgang Kraushaar, Die Protest-Chronik 1949 — 1959. Eine illustrierte Geschichte von Bewegung, Widerstand und Utopie. 4 Bde., Hamburg 1996, 2035.
9 Siehe „Die Kubys von heute sind die Ilja Ehrenburgs von morgen“.
10 Stadtchronik, Stadtarchiv München.