Flusslandschaft 1958

Gedenken

„30. Januar: Nach einer stürmisch verlaufenen Vollversammlung sprechen sich etwa fünfundsiebzig Prozent der dreitausendfünfhundert in der Aula der Universität München versammelten Studenten dafür aus, den am schmiedeeisernen Gitter im Lichthof befindlichen Horaz-Spruch ‚Dulce et decorum est pro patria mori’ (Süß und ehrenvoll ist es, für das Vaterland zu sterben) durch den weniger martialischen, vom Rektor, Professor Egon Wiberg, vorgeschlagenen Spruch ‚Mortui viventes obligant’ (Die Toten verpflichten die Lebenden) zu ersetzen. Der Streit, der große Teile der Studenten- und Professorenschaft ergriffen hat, war durch die Protestaktion eines Studenten, der sich gegen die Restauration patriotischer Sinnsprüche zur Wehr setzen wollte, ausgelöst worden. Er hatte über dem berüchtigten Horaz-Diktum, das gerade frisch vergoldet worden war, ein Spruchband mit der Auschrift ‚Turpe et stupidum est pro amentia loqui’ (Schändlich und dumm ist es, für den Wahnsinn zu sprechen) aufgespannt. Der Akademische Senat hatte daraufhin den militaristischen Sinnspruch des römischen Dichters mit einer Metallplatte verdecken lassen und dazu aufgefordert, einen neuen lateinischen oder griechischen Spruch für die Inschrift vorzuschlagen. Unter den fast fünfhundert Zuschriften, die bis auf drei von Professoren, pensionierten Oberlehrern und anderen Altakademikern stammten, entschied sich dann der Rektor für den Satz ‚Mortui viventes obligant’. Er erfüllte auch als einziger die in der Ausschreibung geforderte Bedingung, die Erinnerung an die Tat der Geschwister Scholl, die 1943 wegen ihres Widerstands gegen das NS-Regime hingerichtet worden waren, wach zuhalten und ‚ihrem Opfertod Sinn und Inhalt’ zu geben. Der konservative Allgemeine Studentenausschuss (AStA), dem auch Korporierte angehörten, sprach sich jedoch bei zwei Enthaltungen mit zehn zu sieben Stimmen für die Beibehaltung des Horaz-Diktums aus. Die Aktion gegen den antiken Sinnspruch, ließ der AStA verkünden, werde von ‚sowjetzonalen Kreisen’ geschürt. Daraufhin sammelte der Ring freier und politischer Studentengruppen, in dem der Liberale Studentenbund Deutschlands (LSD), der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) und der Internationale Studentenbund zusammengeschlossen waren, innerhalb weniger Tage tausend Unterschriften, mit denen sich Kommilitonen für die Einberufung einer außerordentlichen Vollversammlung aussprachen. Da die für einen solchen Schritt erforderliche Zahl von fünfhundert Unterschriften weit überschritten war, blieb dem AStA nichts anderes übrig, als die Vollversammlung einzuberufen. Doch hier wehren sich die konservativen Kräfte, vor allem Vertreter farbentragender und nichtfarbentragender Verbindungen, noch einmal mit allen Mitteln. Lautstark treten sie mit der Begründung, es müsse einmal gezeigt werden, ‚was Deutsche heute denken’, für die Beibehaltung des Horaz-Spruches ein. Ein Student ruft empört dazwischen, dass die Geschwister Scholl und die anderen Mitglieder der Widerstandsgruppe ‚Die weiße Rose’ nicht ‚pro patria’, sondern ‚pro humanitate’ gestorben seien. Als die Abstimmung eine dreiviertel Mehrheit für den Vorschlag des Rektors ergibt, versuchen die konservativ-nationalistischen Kräfte das Ergebnis anzufechten, und als dies scheitert, macht der Sozialreferent des AStA, Heinz Marquart, einen letzten Gegenvorschlag. Der Studentenfunktionär, der dem Kartellverband nichtfarbentragender katholischer Studentenverbindungen (KV) angehört, schlägt den Satz ‚Vitam impendere patriae’ (Das Leben dem Vaterland opfern) als neue Inschrift vor. Erst als auch diese Variante abgelehnt wird, gilt die Kompromissformel des Rektors als angenommen.- Später stellt sich heraus, dass der vermeintlich klassische Sinnspruch ‚Mortui viventes obligant’ sehr viel neueren Datums ist. Er stammt vom Referenten des Volksbundes für deutsche Kriegsgräberfürsorge, Fritz Debus, in Kassel. Er hatte ihn einige Jahre zuvor ersonnen, um einen ähnlichen Konflikt zu schlichten.“1

Am 13. Juli wird im Lichthof der Universität das Mahnmal für die „Weiße Rose“ enthüllt. Die Gedenkrede hält Romano Guardini.

Am 9. November ziehen Gewerkschaftsjugendliche zum Gedenken an die Opfer der Reichspogromnacht vom Hofgarten zur Universität.


1 Wolfgang Kraushaar, Die Protest-Chronik 1949 – 1959. Eine illustrierte Geschichte von Bewegung, Widerstand und Utopie. 4 Bde., Hamburg 1996, 1784 f.; siehe dazu auch Dittmanns „Erinnerungsort: Lichthof der LMU“.