Materialien 1976

MVV-Story

Anfang Oktober flatterte mir ein netter Brief der Staatsanwaltschaft ins Haus, aus dem hervorging, dass es im besonderen öffentlichen Interesse sei, mich strafzuverfolgen. Die Staatsanwaltschaft wirft mir in dieser Anklage vor, mehrfach Verkehrsmittel benützt zu haben, ohne dafür zu bezahlen. Ich bestreite das keineswegs, im Gegenteil. Deswegen gab es dann auch Mitte Oktober eine Verhandlung vor dem Amtsgericht. Trotz meiner zwanzig Jahre ging ich in Begleitung meiner Mutter zum Termin, weil ich dachte, wir könnten das Gericht davon überzeugen, dass für Rentner und Arbeitslose der Null-Tarif her muss.

Auf die öffentlichen Verkehrsmittel angewiesen, kamen wir ne Viertelstunde zu spät in den Sitzungssaal. Der Richter vermerkte unsere Verspätung böse und meinte „noch ein paar Minuten länger und ein saftiger Strafbefehl hätte dieses Verfahren abgekürzt“. Nach dieser aufmunternden Einleitung gab sich der Richter väterlich, tuschelte ein bisschen mit der Dame vom Jugendamt, beugte sich leutselig zur Staatsanwältin und forderte die Protokollführerin auf, die Eröffnung der Verhandlung zu protokollieren. Dann ging’s mit der Vernehmung zur Person los. Der Richter sagte „zum Lebenslauf“ und blätterte in einem Stoß Akten. „Die Vorstrafen“, so meinte er, „müssen zur Abrundung meiner Person verlesen werden.“ Von da an nahm er seine Nase nicht mehr aus den Akten. Meine Einwilligung voraussetzend rasselte der Herr ne’ Litanei runter, die mich selbst erschreckte. Ich kam überhaupt nicht mehr dazu, schon weil mich das Schwarzeroben-Ritual einfach einschüchterte, ne’ Darstellung meines Lebensverlaufs zu geben, so wie ich ihn seh’. Während der Richter in monotoner Eintönigkeit weiter verlas, sich seine Stimme immer weiter von mir entfernte, formulierte ich im Kopf stumm meine Gegendarstellung.

Damit beginnend, dass meine Mutter nach dem Krieg bei den Besatzern in der Air-Base arbeitete, bis sie nicht mehr konnte. Frühinvalidität stellte daraufhin der Amtsarzt fest. Der Antragskrieg um ihre Rente begann, Endlos-Formulare füllten sich, die Bittgänge zum Sozialamt stahlen die Zeit. Endlich wurde meiner Mutter Erwerbsunfähigkeitsrente bewilligt: – schreibe und sage 115,— DM. Dazu gab’s noch Wohngeld. In diese Zeit fällt meine Selbsthilfe. Dafür bekam ich zwei Jahre. Als ich dann 1975 aus dem Knast kam, forschte ich nach, warum meine Mutter nur sowenig Rente bekommt. Die Klärung war verblüffend. Nach eingehender Prüfung kamen nämlich die Länderfinanzministerien und das Bundesfinanzministerium überein, die Lohnstammkarten für zivile Arbeitnehmer bei den US-Streitkräften nach Ablauf von zwanzig Jahren zu vernichten. Klar: keine Stammkarte, keine Registrierung, kein Geld. Ich musste mir also einen Job suchen.

Beim Münchner Merkur wollte man mich. Das ging gut bis zum Druckerstreik. Da wurde unserer Abteilung, der Elektrozentrale, während der Aussperrung der Druckerkollegen angeraten, weiter zu werkeln. Schon weil der Stillstand der Rotationsautomaten deren Überholung möglich gemacht hätte. Wir stiegen auf diesen Deal nicht ein und streikten mit. Kurz darauf wurde ich entlassen. ’nen neuen Job fand ich nicht, weil das Informationssystem der Firmen so gut funktioniert, dass mir z.B. beim Gummi-Metzeler beschieden wurde: „Unser Betrieb ist kein Spielfeld für politische Agitation“. Auch woanders wussten sie, dass ich beim Druckerstreik Flugblätter verteilt hatte.

Meine sprachlose Gegendarstellung wurde plötzlich durch eine harte Richterfrage gestoppt. Wie durch einen Nebel nahm ich die an mich gerichtete Frage „Was arbeiten Sie derzeit“ in mich auf. Mit trockenem Mund antwortete ich: „Derzeit bin ich arbeitslos und krieg 111,60 Mark die Woche“. Von da an fand ich meine Sprache wieder und brachte es auch, mich nach meiner Mutter umzusehen. Irgendwie passiert’s immer wieder, dass ich im Gerichtssaal zuerst mal verdattert dreinschau und kein Wort rausbringe. Nur langsam gewöhne ich mich an die Klemmatmosphäre der Justiz. Jetzt kam der Richter darauf zurück, dass ich mich gemäß Paragraph 265, 248 und 53 des Strafgesetzbuches schuldig gemacht habe. Höflich aber bestimmt bat ich ihn, mir doch den Inhalt dieser Paragraphen auszudeutschen. Schon weil ich ohne Anwalt vor Gericht steh’ und das Paragraphenchinesisch nicht kapier. Der Richter aber meinte nur, es ginge dabei um Beförderungserschleichung und im übrigen gäb’ es vor Gericht keinen Nachhilfeunterricht im Strafrecht. Diese Abfuhr stimmte mich bockig und ich beschloss, ab jetzt keine Aussagen mehr zu machen. Diesen Entschluss teilte ich dem Gericht gleich mit. Wütend belehrte mich daraufhin der Richter, dass dies Verhalten die Verfahrenskosten erhöht. Schon wegen der Zeugen, die nun geladen werden müssen. Die Schwarzrobe meinte, „überlegen Sie sich Ihre Aussageverweigerung gut,“ und beugte sich dabei leutselig zur Staatsanwältin, tuschelte vertraut mit der Dame vom Jugendamt und wies die Protokollführerin an, aufzunehmen, dass die Verhandlung geschlossen sei. Zu mir gewandt und mit eisiger Stimme sagte er noch, „Der neue Termin geht Ihnen schriftlich zu, und kommen Sie nicht wieder zu spät“.

Etwas irritiert verließ ich mit meiner Mutter das Gerichtsgebäude. Bestieg die Straßenbahn und erschlich mir ’ne Beförderung. Auf dem Heimweg meinte meine Mutter noch, dass es wohl ausgesprochen ungerecht sei, dass wir, sie mit ihrer Winzrente, ich mit dem Arbeitslosengeld, das Millionendefizit der MVV abtragen sollen.

Günter W.


Blatt. Stadtzeitung für München 81 vom 12. November 1976, 14 f.