Materialien 1977

Frauen ohne Bewegung?

Liebe Ina!

Was mich an Deinem Artikel besonders verblüfft hat, ist die große Betroffenheit, mit der Du über den Sexismus-Faschismus schreibst, der Dir im Frauenzentrum begegnet sei. Ich war nicht auf dem bewussten Plenum, weiß also nicht, was da gelaufen ist. Dass da aber überhaupt eine Diskussion über das Thema „Faschistisches in der Frauenbewegung“ läuft, spricht, meiner Meinung nach, für das Zentrum. Angesichts des Sexismus, der in ganz anderer, weitaus brutalerer Weise ideologisch und real täglich jeder Frau begegnet, erstaunt mich die übergroße Empfindlichkeit einer Frau gegenüber Äußerungen, wie Du sie zitiert hast (obwohl auch der Kontext interessant zu wissen wäre!). Äußerungen, die ich im übrigen genausowenig billigen kann wie Du. Dennoch kann ich oft verstehen, dass und warum Frauen ihren Männerhass rauslassen. Auch ich habe den in mir. Er ist den Frauen – im Gegensatz zu dem gesellschaftlich legitimierten Frauenhass – lange genug verboten gewesen oder sie haben ihn selbst nicht zugelassen. Wie frau, im Bewusstsein ihrer Unterdrückung, keinen Männerhass haben kann, ist mir ein Rätsel. Von Frauen hat man schon immer verlangt, dass sie die „besseren“ Menschen seien, verständnisvoller, emotionaler, humaner etc., nur um sie noch besser unterkriegen zu können. Die Wut und Aggression, der Hass war den Männern vorbehalten. Sie durften ihre Unterdrücker hassen, das war der Motor für den Widerstand. Das galt und gilt noch heute. Von keinem wird verlangt, dass er Verständnis für das „Gewordensein“ des kapitalistischen Ausbeuters hat oder für den Bullen, der ihn zusammenschlägt. Da wird die gesellschaftliche Komponente, die gerade ihn zu dem gemacht hat, was er ist, auch vernachlässigt. Von den Frauen aber verlangt man, dass sie für den einzelnen Mann (denselben Mann, der offen seinen Hass kundtun kann) Verständnis, vielleicht sogar Liebe aufbringen sollen. Dafür dürfen wir dann das imaginäre Patriarchat hassen … und die Männer vergewaltigen weiter.

Mich verstört, dass solche Erwartungen eine Frau an Frauen hat. In der Frauenbewegung soll halt alles doch schon ganz anders sein, da soll die neue Gesellschaft schon perfekt funktionieren! Aber es ist doch so, dass wir Frauen eben nicht von vorneherein die „besseren“ Menschen sind, sondern auch ein Produkt dieser Gesellschaft. Wir haben viel zu lernen und wir sind auf dem Weg. Neue Verhaltensmuster, nicht autoritäre Strukturen, organisationslose Aktionsformen, das ist doch nicht von vorneherein da und funktioniert.

Auch ich habe schon frustriert das Zentrum verlassen. Ich glaube aber, dass die Ursachen nicht so einfach bei den anderen Frauen und „dem“ Zentrum zu suchen sind, sondern auch in mir. Ich fände es gut, wenn die Frauen, denen es im Zentrum unbehaglich wird, nicht die Flucht ergreifen würden, sondern sich im Zentrum auseinandersetzen würden. Schon um den Frauen Mut zu machen, die frustriert schweigen. Es liegt an uns allen, was im Zentrum läuft.

Ich finde, dass wir von unserem Hass und unserer Wut ausgehen können, deswegen brauchen wir nicht drauf sitzen zu bleiben. Frauensolidarität bedeutet für mich mit anderen Frauen an mir und an uns zu arbeiten. D.h. Kritik, die ich an anderen Frauen habe, an genau diese Frauen zu richten. Es kann jedoch nicht bedeuten, irgendeinem Unbehagen im „Männer-Blatt“ Luft zu machen.

Ina, Du wirst Beifall aus einer Ecke bekommen, aus der Dir’s gar nicht lieb ist!

Miriam


Blatt – Stadtzeitung für München 106 vom 21. Oktober 1977, 13.

Überraschung

Jahr: 1977
Bereich: Frauen

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