Materialien 1980
„auch mal aufstehn und richtig stellen“
Seminarbesuch bei der Hanns-Seidel-Stiftung
Ist die Hanns-Seidel-Stiftung der gemeinnützige Verein zur Förderung der „demokratischen und staatsbürgerlichen Bildung des deutschen Volkes“, als den sie sich selbst darstellt, oder ist sie die schwarze Kader- und Begriffsschmiede für den Kampf um eine konservativ-reaktionäre Erneuerung Europas, wie von anderen befürchtet wird?
Mehr Aufschluss als von jeder Lektüre erwartete ich vom Besuch eines Seminars der Hanns-Seidel-Stiftung. Das „Referat für Deutschland- und Ostpolitik“ lädt ein. Hier muss sich zeigen, was „demokratische und staatsbürgerliche Bildung“ dieser Stiftung meint. Auch das Thema des Seminars ist aktuell und brisant: „Der Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan und seine weltpolitischen Folgen“.
Die äußeren Umstände sind angenehm. Erklärtes Ziel der Veranstalter ist, ihre staatsbürgerliche Erwachsenenbildung nicht in Arbeit ausarten zu lassen. Man achtet darauf, dass die politische Bildung „auf die Veranstaltungsteilnehmer keinen Leistungsdruck ausübt“ (so im Programm des Bildungswerkes der Hanns-Seidel-Stiftung). Konkret bedeutet das, dass den Teilnehmern eine gewohnte und vertrauenerweckende Umgebung und Atmosphäre geboten werden soll, in der sie sich wohl fühlen können. Kein isoliertes Tagungs- oder Schulungsheim, dessen Arbeitsatmosphäre schwerlich Massenwirksamkeit ermöglicht; nein, am besten eignet sich der Festsaal einer großen Münchner Brauerei, der seiner Bekanntheit und Beliebtheit wegen leicht psychologische Schwellen abbauen kann. Und da das Geld für die Hanns-Seidel-Stiftung offenbar keine sonderliche Rolle spielt, wird der Festsaal – trotz Münchner Faschingszeit – angemietet, der Tagungsteilnehmer bekommt noch obendrein für 5,- DM Eintritt ein Mittagessen spendiert, zuzüglich gegebenenfalls der Fahrkostenrückerstattung: „politische Bildung – leicht gemacht“. Da ist es denn auch nicht verwunderlich, dass immerhin über 200 Interessenten aus Oberbayern an einem Samstagvormittag im Februar den Weg zum „Seminar für Europa- und Ostpolitik“ finden.
Unsere Begrüßung nimmt der Referent des Seminars für Außen- und Sicherheitspolitik, Herr Krolopp, vor. Er verweist auf die erfolgreiche Bildungsarbeit der Hanns-Seidel-Stiftung: Sie kann nach 12 Jahren Bildungswerk den 100 000. Tagungsteilnehmer begrüßen. Auch auf unsere Aufgabe als Teilnehmer des Seminars werden wir hingewiesen: Es geht nicht um ein billiges Mittagessen, sondern um weit mehr. Wir sollen die Informationen, die wir erhalten werden, auch weitertragen, den Leuten draußen, den Freunden, Kollegen und Nachbarn die Wahrheit sagen, und wir sollen auch mal aufstehn, wenn irgendwo einer etwas Unrichtiges sagt, und das richtig stellen.
Nach dieser Aufforderung des Seminarleiters beginnt das Seminar um 9 Uhr mit dem ersten Referat über die „gegenwärtige weltpolitische Lage“. Referent: Professor Dr. Dr. Hans Köhler, Mitherausgeber der „Politischen Studien“, Organ der Hanns-Seidel-Stiftung. In den folgenden 1 ½ Stunden entwirft der Professor ein Bild der Welt, das auch den hartgesottenen Entspannungsfreund das Gruseln lehrt. Was Franz Joseph Strauß schon immer wusste, muss jetzt jedem Deutschen klar geworden sein: „Der Weltkommunismus hat in Afghanistan erneut bewiesen, dass er die Welt ideologisch, militärisch und wirtschaftlich erobern will.“ Und sein Zentrum ist – Moskau, das „dritte Rom“, Aus einer unseligen Verschmelzung von großrussischem Expansionismus und kommunistischem Utopismus sei der sowjetrussische Imperialismus hervorgegangen, der nur ein Ziel kenne: die Unterwerfung der freien Völker unter das Moskauer Joch.
Da ist keine Behauptung zu haarsträubend und kein Gedanke zu absurd, wenn er nur in das weltpolitische Raster von der „Bedrohung aus dem Osten“ passt. Nicht nur in Afghanistan und im Mittleren Osten sitzt der Feind; nein, er hat sich überall eingenistet. Der Professor weiß, dass Afghanistan für viele weit weg ist; Angst und Schrecken vor der Bedrohung kann er nur erzeugen, wenn er den „Weltkommunismus“ allgegenwärtig macht. Angola, Rhodesien, Iran, Nicaragua, über den ganzen Erdball hinweg setzt sich der Kommunismus fest und bedroht unsere Freiheit und unsere Lebensinteressen. Mit einem Wort: Ein Gespenst geht um in der Welt. – Aber nicht nur in der äußeren Welt, auch in unser inneres Seelenleben frisst es sich hinein. Unser Wohlstandsdenken, unsere Friedensliebe, unser Glücksstreben, das sind die gefährlichen inneren Freunde des Feindes der „freiheitlichen Demokratie“. Sie sind die heimlichen Bundesgenossen Moskaus, die unseren Willen zur Freiheit lähmen, Westeuropa allmählich von innen her aushöhlen und sturmreif machen.
Was schlägt der Professor gegen die anbrandende Gefahr vor? Sollen, ja können wir überhaupt den sowjetrussischen Welteroberungsplänen etwas entgegensetzen? Ja, denn auch die Sowjetunion kocht nur mit Wasser, auch ihrem Machtstreben sind Grenzen gesetzt – wenn, ja wenn die Europäer und vor allem die Deutschen endlich einmal den Mut aufbringen, ihre Freiheit über alles andere zu stellen, koste es auch noch soviel Entbehrungen. Für die Opfer vertröstet er uns denn mit der „Erkenntnis“ des Christen, dass der Friede und das Glück ja nicht von dieser Welt sind, und wir dereinst empfangen werden, was wir hier entbehren mussten.
So absurd die Belege für die Kennzeichnung der weltpolitischen Lage auch sind, und so widersinnig seine klerikal-antikommunistische Theorie auch ist, der Vortrag beweist, dass Professor Köhler zwar nicht das wissenschaftliche, darum aber umso besser sein demagogisches Handwerkszeug beherrscht.
Er bedient sich vortrefflich der altbekannten Mittel der psychologischen Beeinflussung zur Erzeugung irrationaler Emotionen: 1) Dämonisierung des Gegners. Durch die Hypostasierung des Gegners zu einem allgegenwärtigen, unfassbaren und angsteinflößenden feindlichen Wesen soll der Zuhörer in Schrecken und Angst versetzt und der Verstand, sein rationales Erkenntnisvermögen, vernebelt werden. 2) Rettung vor dem Feind durch die Katharsis. Durch die Reinigung der Seele und die Entsagung von den materiellen Lebensinteressen soll der Mensch die Kraft erhalten, die Angst zu überwinden und dem Feind Widerstand entgegenzusetzen. Es war dies schon immer das psychologische Schema, mit dem die Herrschenden versucht haben, die Massen an ihre Herrschaft zu binden. Ob der Teufel der Bibel, ob der Anti-Christ im Mittelalter, ob der Liberalismus in den bürgerlichen Revolutionen oder heutzutage der Sozialismus – in allen Fällen ging der demagogische Versuch der Reaktion dahin, die Massen von ihren eigenen Interessen abzubringen und durch Entsagung an das bestehende Herrschaftssystem zu fesseln. Sachgerechte Differenzierungen sind da natürlich unerwünscht, weil unbrauchbar. Dass in Afghanistan massive Versuche von außen unternommen worden sind, die nationale Revolution zu ersticken; dass in Nicaragua keine sozialistische, sondern eine antiimperialistisch-demokratische Revolution stattgefunden hat; dass die Chance unserer Freiheit vor fünfunddreißig Jahren nicht gegen, sondern mit der Sowjetunion errungen wurde, dies alles sind Tatsachen und Einsichten, die im Gedankenschema der Reaktion keinen Platz finden und damit für die Hanns-Seidel-Stiftung und ihre Ideologen tabu sind. Nicht um rationale Aufklärung geht es, das macht schon das erste Referat deutlich, sondern, im Gegenteil, um die Erzeugung irrationaler Denk- und Verhaltensweisen, die die Einsicht in die weltpolitischen Zusammenhänge und Verhältnisse unmöglich machen und die Menschen emotional an das bestehende Gesellschafts- und Staatssystem binden sollen.
Es liegt daher ganz in der Konsequenz der Seminarplaner, wenn in der an das Referat anschließenden Diskussion weitergehende Schlüsse gezogen werden. Einer der Tagungsteilnehmer sieht hier offenbar das richtige Forum für seine Vorstellungen: An die „lieben CSU-Mitglieder“ verteilt er seine Flugblätter und begründet in der Diskussion, warum die Demokratie in der Bundesrepublik abgeschafft gehört. „In langer wissenschaftlicher Arbeit“ sei er, Dr. v. Pippich, zu dem Schluss gelangt, dass „das sowjetische kommunistische System machtpolitisch der Demokratie eindeutig überlegen ist.“ (These 3 seines Flugblattes). Ohne Protest darf er seine Schlussfolgerungen daraus verkünden: Die Demokratie müsse beseitigt werden, weil das Volk unfähig sei, „die komplizierten Probleme der Politik zu begreifen“, und die Politiker den anstehenden gesellschaftlichen Konflikten und Problemen nicht mehr gewachsen seien. Ebenfalls ohne Protest propagiert er eine Herrschaft von Wissenschaftlern und Technokraten, ein Parlament der Weisen, das dem Volk nicht mehr verpflichtet ist. „Sophokratie“ nennt er das und wirbt zugleich für eine Zeitschrift gleichen Namens, die seine Auffassung unter Hinweis auf den Philosophen Jaspers, den Biologen Lorenz und den Journalisten Martini begründen würde. Die Antwort des Referenten Prof. Köhler – nicht irgendwer, sondern immerhin Mitherausgeber der „Politischen Studien“ – ist so vielsagend wie bezeichnend. Mit keinem Wort findet er es erwähnenswert, dass Vertreter einer solchen Ideologie Feinde der Demokratie sind, die die Meinungsfreiheit zu verfassungsfeindlichen Zielen missbrauchen. Er argumentiert gerade umgekehrt. An der Idee wäre „schon etwas dran“, nur sei sie nicht durchführbar. Denn erstens hätten wir ja eigentlich gar keine „reale Demokratie“ mehr bei uns; das Hineinreden des Volkes in politischen Dingen sei doch schon weitgehend unterbunden. Und zum zweiten müsse eine repräsentative Demokratie, beschränkt auf den Wahlakt des Bürgers, schon bleiben. Denn wie, so seine Begründung, solle der Bürger sich denn für die innere und äußere Sicherheit des Staates einsetzen, wenn er überhaupt keine Mitsprache in politischen Angelegenheiten mehr besitze?
Die Herrschaftsform der Demokratie, im Grundgesetz verankert, wird zu einem relativen und disponiblen Wert, dem Grundsatz der Staatssicherheit untergeordnet. Kann da noch von der Förderung der demokratischen Bildung des Volkes, wie sie das Ziel der Hanns-Seidel-Stiftung sein soll, die Rede sein? Hier wird klar, warum die Stiftung neben die Aufgabe der demokratischen Bildung ihr Ziel der „staatsbürgerlichen Bildung“ stellt. Beides ist nicht dasselbe. „Staatsbürgerliche, Bildung“ heißt für die Hanns-Seidel-Stiftung offenbar, den Bürger zur Verpflichtung auf den bestehenden Staat „an sich“ zu erziehen. Nicht, weil unser Staat die Interessen seiner Bürger wahrt, schützt und verteidigt; sondern im Gegenteil, weil Aktivitäten dieses Staates mehr und mehr den Interessen der Bürger widersprechen, ist diese „staatsbürgerliche Bildung“ erforderlich: die Menschen sollen von der Vertretung ihrer Interessen ab- und auf solche des Staates hingelenkt werden. Wenn es die – mit der Sicherheit der Machthabenden gleichgesetzte -Sicherheit des Staates nötig macht, dann müssen die Bürger – wenn möglich, freiwillig – ihre Rechte eben abgeben. Das ist die Logik dieser Bildungsarbeit. Sie macht auch die Stiftungsgründung plausibel.
Im Jahr 1965 wurde die „Hanns-Seidel-Stiftung e.V.“ aus der Taufe gehoben. Alles andere als eine Stiftung im echtem Sinne, war sie von Anfang an ein Ziehkind der bayerischen Christlich-Sozialen Union. Sie verdankt ihre Entstehung einem CSU-Landesvorstandsbeschluss und wird finanziell von dieser Partei ausgehalten. Warum aber mussten und wollten die CSU-Oberen der Gesamtpartei solche organisatorischen und finanziellen Belastungen auferlegen, wie sie nun einmal eine solche bildungspolitische Institution mit sich bringt? War denn die „Förderung der demokratischen und staatsbürgerlichen Bildung“ von uns Staatsbürgern nicht schon bei den längst bestehenden Bildungsstätten, der Friedrich-Ebert-Stiftung der SPD, der Naumann-Stiftung der FDP oder doch wenigstens der Konrad-Adenauer-Stiftung der Schwesterpartei CDU in den besten Händen? Die Antwort, die CSU-Spitzen um F.J. Strauß hätten halt auch eine, ihre eigene, Stiftung haben und auch hier ihre parteipolitische Unabhängigkeit demonstrieren wollen, ist zu harmlos. Es ist sicher kein Zufall, dass just zu dem Zeitpunkt, als der Aufbau dieser Bildungsinstitution passierte, der damalige CSU-Generalsekretär Max Streibl auf Weisung von F.J. Strauß die Partei aus einem christlich-sozialen Wahlverein in eine funktionstüchtige und schlagfertige konservative Funktionärs- und Massenpartei umorganisieren sollte. Hatte nicht F.J. Strauß schon Jahre vorher bei seiner lang ersehnten Wahl zum CSU-Parteivorsitzenden 1961 laut darüber nachgedacht, dass die Zeiten der bloß pragmatischen Parteiarbeit von der Hand in den Mund vorbei seien? Hatte er nicht angekündigt, dass die Partei sich auf die kommenden wirtschaftlichen und sozialen „Bewährungsproben“ vorbereiten müsse und eine langfristig angelegte Planung ihrer Organisations- und Bildungspolitik zu erfolgen habe?
Was das erste Referat in kühnem Zug entworfen hat, soll nun im zweiten Vortrag abgesichert werden. Dazu ist „Dr. Alfred Schickel, Historiker“, von der Stiftung bestellt; ehemaliger Landesvorsitzender der christlich-sozialen Studenten in Bayern und Leiter des Katholischen Bildungswerks Ingolstadt, der sich in Artikeln der „Politischen Studien“ die moralische Vervollkommnung der Jugend angedeihen ließ und mit teils wachem, teil angewidertem Interesse pornographischen Schriften, dabei der Zeitschrift konkret, nachspürte und den Verfall der Sitten beklagte. Diesem Historiker fällt nun die Aufgabe zu, uns „sowjetische Europapolitik unter Breshnew“ anhand der Tatsachen verständlich zu machen. Dass er damit überfordert ist, zeigen schon seine ersten Äußerungen. Er richtet seine und unsere Aufmerksamkeit weit weniger auf die historischen Tatsachen, als auf die fixe Idee von einer allmählichen globalen „Bolschewisierung“: Ziel der sowjetischen Außenpolitik soll es sein, „Deutschland, Europa und dann die ganze Welt zu bolschewisieren“. Von dieser Warte aus werden dann das Potsdamer Abkommen, die Abrüstungsverhandlungen, die Entspannungspolitik, die KSZE umgedeutet von friedenssichernden Bemühungen der sowjetischen Regierung in Meilensteine der Bolschewisierung. Aus solcher Sicht des Seminar-Historikers wird der Repräsentant der sozialliberalen Ostpolitik, Egon Bahr, zum „Handlungsgehilfen Moskaus“, bei dem sich nur noch darüber streiten lässt, ob er den „Ausverkauf Deutschlands“ an Moskau aus Dummheit oder Vorsatz betrieben habe. Ja, sogar Don Camillo und Peppone müssen als Belege für die Bolschewisierungsstrategie herhalten: mit ihnen will Moskau nämlich nur die kommunistische Gefahr in Westeuropa verharmlosen, indem der Genosse als ein ganz anständiger Mensch gezeigt wird, mit dem selbst der Herr Pfarrer recht gut auskommen kann.
Er führt doch weitere Belege an; aber was den Historiker leitet, ist weiß Gott nicht die historische Wahrheit, sondern die abstruse Konstruktion einer fortschreitenden Unterwanderung des „freien Westens“ durch die Moskauer Bolschewiki. Und wenn sie nicht mit den Tatsachen übereinstimmt, um so schlimmer für diese. Sie müssen dann eben solange zurechtgestutzt werden, bis sie im Prokrustesbett der Reaktion ihren Platz finden. So ist es z.B. durchaus richtig, dass die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa ein großer Erfolg für die Sowjetunion war. Aber doch nicht auf Kosten der Sicherheit und des Friedens in Europa! Durch die Vereinbarungen, die in Helsinki getroffen wurden, konnte doch unser aller Leben friedlicher werden. Nur bei dem, für den die Existenz von sozialistischen Ländern überhaupt ein Ärgernis ist, und dem die Sicherheit der bestehenden Grenzen Alpträume verursacht, nur bei dem kann die friedliche Koexistenz von Staaten Unsicherheit erzeugen. Und so macht es der Historiker mit allen anderen Marksteinen der „sowjetischen Europapolitik unter Breshnew“.
Er schildert die historischen Ereignisse nur als Erfolge der Außenpolitik der Sowjetunion; er unterschlägt, dass sie ebenso die Erfolge aller demokratischen Kräfte in Europa sind, die an Frieden und Zusammenarbeit interessiert sind. Das wären die historischen Wahrheiten. Aber sie passen nicht in das Weltbild des Historikers von der lauernden Gefahr der Bolschewisierung aus dem Osten. Also kürzt man sie, beschneidet man sie bis zur Unkenntlichkeit, – dann erst passen sie. Das Referat des Historikers wird abgeschlossen mit der unvermeidlichen Warnung an uns Teilnehmer, uns vor den Sirenenklängen der friedliebenden Sowjetunion in Acht zu nehmen und stand- und mannhaft den Sowjets entgegenzutreten. Warum wir das sollen, macht eigentlich erst die anschließende Diskussion klar. Auf die Frage eines Seminarteilnehmers, ob wir gegen die Sowjetunion vielleicht die Freiheit in der Weise verteidigen sollen, dass das „noch mehr Rauschgiftsüchtige und noch mehr Rauschgifttote“ bedeuten kann, sieht sich der Referent veranlasst, deutlicher zu werden. Niemand wolle eine solche Demokratie; das müsse schon eine „wehrhafte Demokratie“ sein, die „solche und andere Schwachstellen auslöschen muss“. Um diese Form der Demokratie kämpfe man ja gerade. Aber der ganze Kampf hätte nach seiner Meinung überhaupt keinen Sinn, solange es Bürgerinitativen gebe, die um einen Quadratmeter Boden bei uns kämpfen, aber die riesigen Ostgebiete kampflos den anderen überlassen.
Nach diesen Auslassungen des Referenten geht’s in die Mittagspause. Jetzt ist Zeit, andere Tagungsteilnehmer kennenzulernen. Ich finde keineswegs nur verbohrte und reaktionäre Ideologen. Sie sind fast alle Mitglieder der CSU, viele kommen in der Hauptsache, weil die Bahnfahrt nach München umsonst ist, weil man bekannte Parteifreunde trifft und weil man nirgendwo so billig zu Mittag essen kann. Andere haben an der „Einseitigkeit“ der Referate etwas auszusetzen: man wolle hier lieber in Ruhe und Frieden leben, als dauernd das Kampfgeschrei hören zu müssen. Auch der „Sophokrat“ vom Vormittag wird trotz seiner Regsamkeit von der Mehrheit abgelehnt. „An Philosophenstaat brauch’n ma net“, meint einer unter Zustimmung der Umsitzenden. Trotz des großen rhetorischen Aufwands der „Förderer staatsbürgerlicher Bildung“ hat es den Anschein, als wolle der Funke der Begeisterung nicht recht überspringen. Man genießt das Weißbier, lässt sich den Schweinsbraten schmecken, hat auch brav zugehört, aber Enthusiasmus für diese „Sache der Freiheit“ ist nirgends zu spüren.
Nach Beendigung des Mittagessens wird’s nochmal ernst. Den abschließenden Vortrag hält der Experte in Fragen äußerer Sicherheit Dr. Gerhard Baumann, „Publizist“, wie er in der Einladung vorgestellt wird. Er hat sich schon als begeisterter Befürworter der Neutronenbombe und der NATO-„Nachrüstung“ hervorgetan und spricht nun zum Thema „Ist der Friede für Europa sicherer geworden?“ Wer am Vormittag den Vorträgen zugehört hat, kann die Frage jetzt mit einem eindeutigen „Nein“ beantworten. Wo das offenkundige Versagen der Bonner Politiker dem sowjetischen Hegemonismus Tür und Tor geöffnet hat, da kann von einem sichereren Frieden doch keine Rede sein.
An dieser „Einsicht“ setzt nun auch der Sicherheitsexperte an. Er will sich mit der Frage beschäftigen, was der Westen tun müsse, um die Sicherheit wieder herzustellen. So widersinnig es für jeden vernünftig denkenden Menschen auch ist, er postuliert, dass wir nur durch Drohungen und Pressionen gegenüber der Sowjetunion zu einem „gerechten Frieden“ gelangen können. Was heißt das konkret? Wenn sich zum Beispiel ein Militärflugzeug der DDR über Westberlin verirren sollte – gleich abschießen, statt lange Protestnoten schreiben. Und wenn Südafrika die Atombombe besitzt, dann ist das im Interesse der Sicherheit unserer Transportwege zu begrüßen; denn moralische Bedenken nützen ja nur Moskau. Und mögen sich die Amerikaner im Nahen Osten auch in Abenteuer stürzen, so gewähren wir ihnen Hilfe; denn „wer das Bündnis verletzt, gefährdet unsere Sicherheit“. Die ganze Politik der Entspannung mit dem Osten muss schließlich da ihre Grenzen haben, wo die Folge „Hammer und Sichel auf unseren Rathäusern“ ist.
Es wird einem angst und bange, wenn man daran denkt, dass solche Kalten Krieger für unsere Sicherheit verantwortlich sein sollen. Und dennoch ist dieses Kriegsgeschrei kein Versehen, sondern gehorcht der inneren Logik der Tagung. Wo der einzige Inhalt der politischen Begriffsbildung blinder Antikommunismus ist, wo die Ultima ratio des politischen Handelns allein im Gegensatz von „Freiheit oder Sozialismus“ erkannt und hinter jeder politischen Aktivität, die vom Programm der Rechten abweicht, der große Steuermann in Moskau gewittert wird, da kann die Sicherheitspolitik nur in Kategorien wie „Abschießen“, „Aufrüsten“, „Zurückschlagen“ formuliert werden.
Es ist nicht verwunderlich, dass das „Seminar für Europa- und Ostpolitik“ der Hanns-Seidel-Stiftung mit dem Appell des Referenten zuende geht, nunmehr sei die Zeit gekommen, wo wir für unsere Sicherheit „tiefer in die Tasche greifen müssen“, wo wir nicht nur die Bereitschaft zeigen sollten, uns die für unsere Sicherheit notwendigen Waffen zu beschaffen, sondern auch den Willen kundtun müssten, die Waffen „notfalls auch anzuwenden“. Ein Appell, der der Kriegshetze nahe kommt.
Kehren wir zum Abschluss nochmals zum Anfang zurück: Ist nun die Hanns-Seidel-Stiftung ein gemeinnütziger Verein zur Förderung der demokratischen und staatsbürgerlichen Bildung?
Die Hanns-Seidel-Stiftung hat nichts mit einem gemeinnützigen staatsbürgerlichen Bildungsverein zu tun.
Die Stiftung war von Anfang an als das bildungspolitische Instrument der CSU-Spitze zur ideologischen Formierung der eigenen Kader und zur weltanschaulichen Propaganda ihrer Politik geplant. Nicht der Eifersucht, sondern dem Misstrauen gegenüber der ideologischen Prinzipientreue der anderen Bonner Parteien verdankt die bayrische Stiftung ihr Entstehen. Eine kompromisslos konservativ-reaktionäre „Gegenakademie“ also, inzwischen nicht zuletzt unrühmlich bekannt durch ihre erfolgreiche Zusammenarbeit mit faschistischen Institutionen im Ausland; eine wehrgeistige Alpenfestung, die der drohenden Zersetzung der Hirne unserer Staatsbürger entschlossen und offensiv die Stirn bieten soll. Das Strauß-Wort: „Wenn die Verflachung der Politik beginnt, dann wird aus den bayrischen Bergen (sprich Wildbad Kreuth) die Rettung kommen“, kann ohne weiteres im Sinne des Stiftungsauftrages verstanden werden. So bleibt nur noch, alles zu tun, damit die Kräfte, die diese Hanns-Seidel-Stiftung repräsentiert, bei uns nicht vollends die Oberhand gewinnen.
Alexander von Pechmann
kürbiskern. Literatur, Kritik, Klassenkampf 3/1980, 96 ff.