Flusslandschaft 1980

CSU

Franz Josef Strauß ist Kanzlerkandidat. Im Januar 1968 gründete die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) die Demokratische Aktion gegen Neonazismus und Restauration (DA). Daraus entstand der Presseausschuss Demokratische Aktion (PDA), der im Februar 1974 in Pres-
seausschuss Demokratische Initiative
(PDI) umbenannt wurde. Neben Kurt Hirsch sind hier Frie-
der Hitzer, Ingrid Schuster und Erika Runge aktiv. Seit Jahresanfang veröffentlicht der PDI alle vierzehn Tage „Berichte, Argumente und Dokumente zur Bundestagswahl ’80“.

Strauß teilt aus. Er meint u.a., in der SPD-Bundestagsfraktion gebe es „Sympathisanten der Baa-
der-Meinhof-Verbrecher“ und Vertreter „marxistischer“ oder der „sozialistischen Heilswahrheit“, deren politische Arbeit durch führende SPD-Politiker „stellvertretend dafür genannt seien die Na-
men Brandt, Wehner, Bahr, Ehmke, Klose, erleichtert“1 wird. Sorgenvolle Beobachter stellen die Aufkündigung des seit Ende der fünfziger Jahre vereinbarten Grundkonsenses der „Gemeinsam-
keit der Demokraten“ fest: „… Niemand sollte unterschätzen, was auch eine nur rhetorisch, nur taktisch-polemisch gemeinte Aufkündigung dieses Basiskonsenses bedeutet, wie sie der Kandidat offensiv praktiziert. Verbale Symbole, ideologische Polarisierung und eine Strategie, die auf die Mobilisierung kollektiver Ängste, Vorurteile und Einstellungen zielt, haben historisch ihre eigene Dynamik. Kein Wort ist nachher ungesagt. Niemand kann am Wahlabend – so oder so – tun, als ende mit der professionell gesteuerten Kampagne auch der Prozess im gesellschaftlichen Bewusst-
sein selbst, als verschwänden mit den Wahlplakaten die heraufbeschworenen Einstellungen und Wertungen, Ängste und Ideologien. Die Sieger wie die Verlierer der Wahl werden lange mit ihnen leben müssen. Nicht auszudenken, wenn zudem die ökonomische Krise außer Kontrolle geriete!“2

Wer sich mit den herrschenden Verhältnissen kritisch auseinandersetzt, kommt nicht darum he-
rum, einen Blick auf die Bayern dominierende Partei und ihren Vorsitzenden zu werfen. Wer sich dieser Partei aber allzu sehr nähert, wird fassungslos über eine Welt, die so ganz anders ist als die alltägliche Wirklichkeit, in der er sich sonst bewegt. Da diese Welt in ihrer antiintellektuellen Irra-
tionalität einzigartig ist, fällt es schwer, sich mit ihr rational auseinanderzusetzen.3

„Peter Jona Korn (58), Direktor des Münchner Richard-Strauss-Konservatoriums …, gewann 23 weitere Künstler und Wissenschaftler für eine Resolution gegen den Versuch des Literaten Bernt Engelmann (59), dem CDU/CSU-Kanzlerkandidaten Franz Josef Strauß (64) eine Nazi-Vergangen-
heit und Nazi-Gesinnung anzudichten: ‚Bei einem deutschen Politiker ist eine solche Behauptung … der denkbar schlimmste Rufmord, der wohl kaum durch Berufung auf die „freie Meinungsäuße-
rung“ gerechtfertigt werden kann.’ Die Unterzeichner – darunter der Schauspieler und Regisseur Axel von Ambesser (70), die Rechtswissenschaftler Karl Doehring (61) und Otto Kimminich (48), der Komponist Werner Egk (79), der Schriftsteller Hans Egon Holthusen (67), der Naturwissen-
schaftler Joachim Illies (55), die Kammersängerin Erika Köth (54), der Historiker Golo Mann (71), die Psychagogin Christa Meves (55), der Dirigent Wolfgang Sawallisch (56) – stellen fest, Engel-
manns erklärte Absicht, Strauß zu gerichtlicher Klärung seiner (erlogenen) Vorwürfe zu zwingen, sei ‚Nötigung’: ‚In einer freien Gesellschaft ist es Sache des Anklägers, Beweise für seine Behaup-
tungen vorzulegen, nicht Sache des Beschuldigten, seine Unschuld durch ein Gericht feststellen zu lassen.’ Dem Verband deutscher Schriftsteller (VS), ‚der sich in der Öffentlichkeit wiederholt zum Anwalt politischer Moral gemacht hat’, stellen sie die Frage, wie lange dessen Wortführer ‚diesen Machenschaften’ ihres Vorsitzenden Engelmann ‚sprach- und tatenlos zusehen wollen’. Engelmann freilich zeigt sich wenig beeindruckt und setzt auf eine Lüge anderthalbe: In seiner Erwiderung auf die Resolution der 24 sucht er sich mit der Behauptung reinzuwaschen, sein Vorwurf, Strauß sei ‚auch heute noch ein Nazi’, habe sich – hinterher! – auf dessen Äußerung bezogen: ‚Mit Ratten und Schmeißfliegen führt man keine Prozesse.’ Das glaubt er ja wohl selbst nicht. Tatsache ist: Am 27. Juli 1978 berichtete die Deutsche Presse-Agentur, was Engelmann über Strauß’ ‚braune Vergan-
genheit’ zu wissen vorgab. Am 28. Juli stand es in den Zeitungen. Am 29. Juli fiel die Strauß-Äußerung, als Parteifreunde in Kronach ihn aufforderten, Engelmann vor Gericht zu zitieren.“4 – „Diesen Spruch ‚Die Schreihälse da hinten sollen dahin zurückgehen, wo sie hingehören: nämlich in die Löcher der Ratten und Mäuse’, hat Schmidt 1978 in München auf dem Marienplatz ebenfalls geäußert. Ich war gerade am Erschrecken über diese Ungeheuerlichkeit, da fing die Menge an zu klatschen und ihm dafür Beifall zu spenden. Das habe ich heute bei einer Maikundgebung einem Kollegen erzählt (es ging um „Stoppt Strauß“) seine Antwort: Scheiße. Marianne Schmalzried, München.“5

„… Zwei der folgenden vier Äußerungen sind dem ,Bayernkurier‘, dem offiziellen Sprachrohr der CSU, entnommen, die beiden anderen stehen in den Verfassungsschutzberichten 1966 und 1971, sie wurden dort als Beispiele rechtsextremistischer Agitation klassifiziert: 1. Bundeskanzler Schmidt sei ein ,williges und lautstarkes Sprachrohr der kommunistischen Diktatoren in Moskau‘, 2. die Bonner Regierung sei ein ,Handlanger … der Sowjetunion‘, 3. Willy Brandt habe eine ,noto-
risch deutschfeindliche Einstellung", 4. im Fernsehen mache ,eine Handvoll kommunistisch infi-
zierter Intellektueller die öffentliche Meinung‘. Wagen Sie, verehrte Leser, zu entscheiden, aus wel-
cher Quelle die einzelnen Zitate stammen? …“6 Das erste und dritte Zitat stammt aus dem Bayern-
kurier
, die beiden anderen stammen aus der NPD-Propaganda.


Franz Josef Strauß will Bundeskanzler werden. Wer hilft ihm dabei? Pepsch Gottscheber hat den „Kandidaten“ gezeichnet, wie er sabbernd in eine Weißwurst beißt, auf der „ARD“ geschrieben steht. In der CSU fordern seit Jahren viele, der Bayerische Rundfunk solle die Gemeinschaft der Fernsehprogramme der Länder verlassen. Der Vorwärts druckt die Karikatur und die CSU zieht vor die Schiedskommission, die beim Wahlkampf über die Fairness der Kontrahenten wachen soll. „Die Schiedsstelle trat also zum erstenmal in Aktion und beschied: schuldig. ‚Die Karikatur ver-
stößt nach Form und Inhalt gegen die Grundsätze eines fairen und sachlichen Wahlkampfs.‘ Aber merkwürdig: Zwar wurde der zeichnende Kommentator und Journalist damit getadelt, nicht je-
doch die SPD. ‚Ob gegen die SPD der Vorwurf erhoben werden kann, gegen das Wahlkampfab-
kommen verstoßen zu haben, war wegen der im Redaktionsstatut des „Vorwärts“ vom 31. August 1976 festgelegten Unabhängigkeit der Redaktion in diesem Falle nicht feststellbar.‘“7

CSU-MdL Richard Hundhammer fragt im Münchner Stadtanzeiger: „Heißt der OB im Jahr 1990 Achmed?“ Das geht noch an. Wenn aber die Bürgeraktion Demokraten für Strauß um den ZDF-Moderator Gerhard Löwenthal und den Exil-Tschechen Ludek Pachmann „Stoppt die linke Volks-
front“ plakatieren, geht das Erich Riedl, 47, CSU-Bundestagsabgeordneter und Präsident von 1860 München, zu weit: Dumpfe Polemik schade dem Image der „modernen Großstadtpartei“. „Dem Strauß-Sohn Max, der zu seiner Wahlhelfer-Riege gehört, gab der Unions-Abgeordnete Anweisung, die Sprüche der rechten Bürgeraktion mit christsozialen Plakaten zu überkleben.“8

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o wie der linke Magazinmacher Röhl
oo wie der rote Schriftsteller Engelmann
ooo wie der Spiegel-Boss Augstein
oooo wie der „Kandidat“-Regisseur Schlöndorf
Herausgeber: Bürgeraktion Demokraten für Strauß, 5300 Bonn, Verantwortlich: Peter Helmes, Druck: Carl Gerber, München

Am 11. September visitieren zwölf Polizeibeamte das Kreisbüro der DKP. Eine Karikatur von Strauß ist der Auslöser. Der daraufhin von Gisela Elsner, Guido Zingerl und Werner Marschall verfasste offene Brief löst eine Welle von Solidaritätsbekundungen aus.10

Es ist Wahlkampf. Manche unzufriedenen Zeitgenossen sind versucht, an CSU-Wahlplakaten herumzubosseln.11 Auf Wahlplakaten an der Landstraße zwischen Puchheim und dem Puchheimer Bahnhof umarmt Tochter Monika ihren Vater Franz Josef. „Auf eines hatte ein feiner Psychologe mit Filzstift geschrieben: ‘Am 5. Oktober (dem Wahltag) gehört Papi wieder mir.’“12

„Stoppt Strauß!“ Die Proteste nerven den Staatsmann. Bei einer Wahlkampf-Kundgebung auf dem Münchner Marienplatz platzt ihm am 23. September der Kragen. Er kanzelt den Einsatzleiter der Exekutive ab und lässt ihn ablösen. „Vor dem Untersuchungsausschuss ‚Marienplatz’ bestreitet Ministerpräsident Franz Josef Strauß am 11. Februar 1981, bei einer Wahlkundgebung am 23. Sep-
tember 1980 in München den Einsatzleiter der Polizei widerrechtlich abgesetzt zu haben. – Bei der CSU-Veranstaltung auf dem Münchner Marienplatz anlässlich der Bundestagswahl traten Gegen-
demonstranten mit Sprechchören und ‚Stoppt Strauß’-Plakaten auf. Als sich der verantwortliche Einsatzleiter, Münchens Polizeivizepräsident Georg Wolf, unter Hinweis auf die Rechtslage weiger-
te einzuschreiten, kam es zu seiner umstrittenen Ablösung. Vor dem auf Betreiben von SPD und FDP eingesetzten Untersuchungsausschuss des Landtags sagte er aus, der Regierungschef habe ihn mehrfach für abgesetzt und abgelöst erklärt. — Ministerpräsident Strauß bestreitet dies vor den Parlamentariern kategorisch, wenn er auch einräumt, Wolf ‚für nicht brauchbar und nicht fähig’ gehalten zu haben, um einen störungsfreien Ablauf der Kundgebung zu garantieren. Er habe ihn keineswegs für abgesetzt erklärt, sondern nur das ausgesprochen, ‚was man beim Militär einen An-schiss nennt’. Seine Mitarbeiter hätten daraufhin Kontakt mit dem Innenministerium aufgenom-men. Mit der Einsatzleitung sei daraufhin Polizeipräsident Manfred Schreiber betraut worden. — Eine von der SPD beantragte Gegenüberstellung von Strauß und Wolf lehnt die CSU ab. In ihrem Schlussbericht sieht sie es aufgrund der Befragung zahlreicher Zeugen als erwiesen an, dass die Ablösung des Einsatzleiters vom Ministerium verfügt worden sei. In der Plenardebatte am 8. April gesteht Ausschussvorsitzender Hermann Leeb (CSU) dem Beamten allerdings zu, bei ihm habe der subjektive Eindruck entstehen können, ‚der Wunsch des Ministerpräsidenten’ sei ein ‘Befehl’. — SPD und FDP beharren darauf, dass Strauß den Polizeivizepräsidenten in ‚verfassungswidriger Überschreitung seiner Kompetenzen’ abgesetzt habe. Sie sehen auch einen Verstoß gegen das Res-sortprinzip, weil Strauß Wolf angewiesen habe, ‚konkrete polizeiliche Einzelmaßnahmen zu ergrei-fen’, um gegen die Störer der Kundgebung vorzugehen. Karl-Heinz Hiersemann (SPD) urteilt über den CSU-Ausschussbericht mit den Worten, ‚dass nicht sein kann, was nicht sein darf’. Was damals in München passiert sei, sei ‚kein Ruhmesblatt für den Freistaat’. Gerhard Zech (FDP) spricht von einer ‚peinlichen Blamage’ für Strauß.“13

Anlässlich der Bundestagswahlen im Oktober ziehen etwa 150 Leute in etwa dreißig Fahrzeugen am 13. September in Sonthofen beginnend in 23 Tagen über München, Frankfurt und Hamburg und enden ihre Tour am 5. Oktober in Bonn. Sie führen Brechts Gedicht „Der anachronistische Zug“ auf und geben der Veranstaltung den Untertitel „Brecht statt Strauß“. Die Münchnerin Angela Kammrad hat das Projekt, das vom Arbeiterbund für den Wiederaufbau der KPD geplant und organisiert wird, am 11. Juni in Bonn auf einer Pressekonferenz vorgestellt.14 Nicht alle aus der Szene sind von der Veranstaltung begeistert.14

Siehe auch „Frauen“.

(zuletzt geändert am 10.6.2020)


1 „Das Grundgesetz aus der Sicht des Politikers“, zitiert nach Politische Studien. Zweimonatsschrift für Zeitgeschichte und Politik, Sonderheft 1/1979, 12.

2 Michael Th. Greven: „Die verbale Strategie des Kanzlerkandidaten“ in: Redaktion der Frankfurter Hefte (Hg.), Die Aussichten der Republik, Frankfurt am Main 1980, 160 — 170, hier: 170.

3 Siehe „‚Franz Josef, gib uns Hoffnung und Aussicht und Chance und Zukunft’“ von Conrad Schuhler sowie „‚auch mal aufstehn und das richtigstellen’“ von Alexander von Pechmann.

4 Deutschland-Magazin 8 vom 1. August 1980, 65.

5 ♀Emma. Zeitschrift für Frauen von Frauen 6 vom Juni 1980, 20. Siehe auch „Stoppt Becker“ von Knut Becker.

6 Wolfgang Benz, Rechtsextremismus in der Bundesrepublik in: Gewerkschaftliche Monatshefte 8 vom August 1980, Köln, 513.

7 profil. Das unabhängige Nachrichtenmagazin Österreichs 34 vom 18. August 1980, Wien, 28.

8 Der Spiegel 36 vom 1. September 1980, 250.

9 Privatsammlung

10 Siehe „ähnlichkeiten“ von Guido Zingerl.

11 Siehe „Entgangene Wirkung“.

12 Süddeutsche Zeitung 234 vom 9./10. Oktober 1999, 17.

13 Peter Jakob Kock, Der Bayerische Landtag. Eine Chronik, Bamberg 1991, 250 f. Siehe „Strauß im Eklat“ und „Eine nicht unbedeutende Variable …“ von Martin Winter.

14 Siehe „Brecht statt Strauß“.

15 Siehe „Wahl“ von Werner.