Materialien 1982
Ich werde jetzt wieder beschleunigen …
Am Sonntag, dem 27. September, meinen viele in Wiesbaden, Sie seien Schuld daran, dass Dregger nicht Ministerpräsident von Hessen werden kann, das Büffet mit Gemüsesuppe und Hühnerteilen mundet kaum. Am Freitag, dem 1. Oktober, erhält Kohl Ihr Telegramm: »Lieber Helmut, die herzlichsten Glück- und Segenswünsche. Mit Deiner Wahl zum Bundeskanzler ist endlich der Weg frei für den politischen Neubeginn, den unser Volk braucht, damit es aus der tiefsten innen- und außenpolitischen Krise seiner Nachkriegsgeschichte herausgeführt werden kann. Geschlossen und entschlossen, nüchtern und unerschrocken gilt es nun wieder sichere Grundlagen für die Zukunft zu schaffen durch eine illusionslose, ehrliche und überzeugende Politik, die den Frieden in Freiheit wahrt, Arbeitsplätze schafft, Wohlstand und soziale Sicherheit garantiert.«Am Samstag eröffnen Sie die Modewoche in München. «Es war uns leider nicht vergönnt, für den Bundeshaushalt 1983 einen eleganten, vornehmen und gutsitzenden Maßanzug zu schneidern«, sagen Sie im Kongreßsaal des Ausstellungsgeländes, «wir mussten uns mit der Aufgabe eines Flick- und Änderungsschneiders begnügen.«
Der Abend des 4. Oktober, eines Montags, ist kühl, der erste richtige Herbstabend. G. kommt zu uns in die Wohnung, damit wir gemeinsam mit der U-Bahn zum Marienplatz fahren können. Ich habe den alten englischen Gabardine-Mantel angezogen, »ein antikes Stück«, ich bin ein wenig ängstlich, ich ertrage bewegte Massen nur schlecht, schon gar welche, die Sie bewegt haben.
Der U-Bahnhof Marienplatz ist gut bevölkert, doch könnte es auch die Menge sein, die aus den Geschäften nachhause strömt. Als wir vor dem Kaufhof die Oberfläche erreichen, hören wir Sie schon reden – es ist 19 Uhr, ich hatte fest damit gerechnet, dass Sie nicht pünktlich um 18 Uhr beginnen, dass Sie das Publikum mindestens eine Stunde warten lassen würden. Aber nein, ein Passant bestätigt es, «der redet schon seit einer Stunde.«
Klar, die Leute stehen dicht auf dem Marienplatz, Sie sind nur winzigklein zu sehen, auf einem Podium vor dem Rathausgebäude, zusätzlich versperren Transparente die Sicht, Transparente, die ich kaum lesen kann, weil ihre Beschriftung Ihnen und den anderen Besetzern des Podiums zugewandt ist, als wären die Parolen vor allem für Sie bestimmt.
Wie gesagt: von hier aus scheinen Sie winzig klein. Was den Raum füllt, ist Ihre Stimme, weil die Lautsprecher sie maßlos verstärken, die kleine Gruppe der Pfeifer kommt kaum dagegen an. Trotzdem tut Ihnen die Vergrößerung durch die Lautsprecher nicht gut. Hält man sich nämlich an das Format, das sie von Ihnen entwerfen, Sie müssten so hoch wie das Rathaus sein. Dass Sie es nicht sind, machen die Lichtstrahler, die auf Sie gerichtet sind, als wären Sie das Allerheiligste, unmissverständlich klar.
Offen gesagt: ich brauchte keine Angst zu haben, in eine von Ihnen bewegte Masse hineinzugeraten. Sicher, es sind viele Leute da, sie hören Ihnen zu, manchmal, selten, gibt es auch Beifall zu dem, was Sie sagen. Aber es kommt mir tatsächlich so vor, als wären es im wesentlichen die aus den Geschäften nachhause Eilenden, die noch einmal Halt gemacht haben, um einem fliegenden Händler zuzuhören, der die ultima ratio seines Gemüsehobels preist. Auch mag die Leute fesseln, dass dieser fliegende Holländer seinen Gemüsehobel über kräftige Lautsprecher und angestrahlt wie ein Allerheiligstes anpreisen darf.
K. möchte, dass wir uns zur Gruppe der Pfeifer hindurchdrängen. Ich höre Sie von einem bayerisch-sowjetischen Symposion, einer Fachkonferenz, wie Sie gleich übersetzen, zu Umweltproblemen reden, eine gemeinsame Veranstaltung von Bayern und Russen, die aber keineswegs bedeuten soll, dass Sie Ihre Einstellung zu Afghanistan und zu Polen geändert hätten. K. wundert sich, wie totenblass Stoiber, der schräg hinter Ihnen auf dem Podium steht, in natura ausschaut (wir besitzen keinen Farbfernseher). Der bleiche Stoiber trägt einen Trenchcoat: ja, es ist der erste richtige Herbstabend. Nein, die Leute, an denen wir uns vorbeidrängen, gehen nicht mit bei dem, was Sie sagen.
So kann ich nicht behaupten, dass ich, als wir die Gruppe der Pfeifer erreicht haben, mich endlich unter unsresgleichen fühlte, als Teil der Minderheit, die mit Ihnen und Ihresgleichen und allem, was Sie tun, lassen, reden und symbolisieren, nicht einverstanden ist und sich auch bei dieser Kundgebung hörbar machen muss gegen die Mehrheit, die nun einmal auf Ihnen steht.
Sicher, es ist wichtig, dass die Pfeifer zur Stelle sind, es würde sonst einfach etwas fehlen. Seit wir Sie kennen, gehört es zu Ihrem Bild, dass Sie zwar leidenschaftliche Anhänger, aber ebenso leidenschaftliche Gegner haben. Auch gefällt es mir, dass in der Gruppe ein handgemaltes Transparent hochgehalten wird, «Friede/Freude/Eierkuchen«. Das erfreut mich als angemessen schwachsinnige Parodie auf die offizielle Parole «Freiheit/Frieden/Freunde« mit ihren zart schwulen Obertönen.
Ich dränge, dass wir zurückgehen zum U-Bahn-Eingang am Kaufhof, ich meine genug gesehen zu haben. Polizisten mit Schutzhelmen beginnen unauffällig die Pfeifer einzukreisen, und G. gerät bei ihrem Anblick sogleich in einen Zustand akuter Kampfeslust. Ach ja: hier auf dem Marienplatz lieferten Sie vor zwei Jahren einen der schönsten Beiträge zur Geschichte Ihrer Wutanfälle, als Sie nämlich den Polizeivizepräsidenten, weil er eine kleine Gruppe, die gegen Ihren Auftritt protestierte, nicht stante pede vertreiben wollte, absetzten – nein, nur anschnauzten – nun, damit befassten sich Untersuchungsausschüsse, wie gesagt: weil der Wutanfall Sie meist zur falschen Gelegenheit erwischt, werden umfangreiche Rechtfertigungen nötig.
Wir drängen also in Richtung V-Bahn zurück, ich vorneweg. »Und genau weil ihr solche Ideen habt, wählen wir euch nicht!« höre ich plötzlich K. sagen, bleibe stehen und drehe mich um.
Sie hat mit zwei jungen Männern gesprochen. Sie hatten sich, wie sie erzählt, gerade genüsslich und lautstark ausgemalt, wie eine Truppe von Karatekämpfern die Pfeifer auseinander treiben könnte. Brav schauen sie aus, die beiden jungen Männer, bürgerlich, wie man so sagt, sie tragen, was im Kaufhof als sportliche Freizeitkleidung angeboten wird.
«Ist das etwa Toleranz?« fragt der mit dem dünnen Oberlippenbärtchen. Er meint die Pfeifer und lächelt triumphierend, er hält den Einfall für unschlagbar, schon gar für eine Frau.
«Was heißt hier Toleranz?« fragt K. gleich zurück, «das hier ist Wahlkampf!«
Da war er schon am Ende, der junge Mann im Freizeitlook, und K. freut sich. Er versucht noch einen Witz zu reißen, den aber nicht einmal sein Kumpel versteht, irgendetwas von einer Telefonzelle. Unterdessen reden Sie von einer Entschwefelungsanlage und kommen auf unserem Rückweg nicht mehr davon los, Entschwefelungsanlage, und noch einmal: Entschwefelungsanlage. Der letzte Blick auf Sie ähnelt dem ersten: etwas Winziges in Festbeleuchtung.
Bei der Rückfahrt in der V-Bahn sind wir uns einig: »Das war aber sehr matt.« Mehr aus Pflichtgefühl beginne ich eine Analyse des kleinen Zwischenfalls: dass der junge Mann im Freizeitlook unter Toleranz augenscheinlich versteht, wenn man Ihnen andächtig lauscht; andernfalls sind Karateschläge zu verabreichen. Das sei, sage ich, typisch für die Strukturen, die Sie hervorgebracht haben und die Sie verkörpern … Aber auch diese Analyse weckt bei K. und G. kein rechtes Interesse. K. wiederholt einfach: «Aber insgesamt war es doch sehr matt!« …
Michael Rutschky: „Der Ministerpräsident“ in Michael Rutschky (Hg.), 1982. Ein Jahresbericht, Frankfurt am Main 1983, 160 ff.