Flusslandschaft 1982

CSU

Sozialreferent Hans Stützle (CSU) macht sich Sorgen. Parteiintern kursiert sein Thesenpapier
„Die verhütete Zukunft. Bundesrepublik als Negativbeispiel – In München wird gegengesteuert“. Der Mann stützt sich auf die bevölkerungspolitischen Thesen des französischen Historikers Pierre Chaunu, sieht erschrocken die „Überfremdung durch ethnisch und kulturell ferner stehende Zu-
wanderer“, der der „gegenwärtige Selbstausrottungstrend der Weißen“ in die Arme spiele. Um den Sturz in die Katastrophe zu verhindern, müssten 20 Prozent der deutschen Familien zwischen vier und sieben Kindern berufsmäßig aufziehen. Dies ermögliche „eine Berufslaufbahn ‚kinderreiche Familie‘ mit der Bezahlung auf der Basis eines durchschnittlichen Facharbeitereinkommens“.1

3. Februar: „Für große Aufregung bei Politikern, der Löwenbrauerei und vor allem in der Presse sorgt die kommende Triumphatorprobe im Löwenbräukeller am Stiglmaierplatz. Der für den Anstich engagierte Kabarettist Gerhard Polt hatte kurz zuvor in einer Fernseh-Kabarettsendung bayerische CSU-Politiker verunglimpft. Die Brauerei befürchtete daraufhin das Fernbleiben des CSU-Kabinetts. Nun entspannt Ministerpräsident Strauß die Lage mit der Erklärung, an seiner Bewertung der Sendung, diese sei eine grobe Entgleisung … würde er nichts ändern, er wisse aber wohl die Frage, ob er am Starkbieranstich teilnehmen solle, davon zu trennen.“2 Polt ist inzwischen die Lust vergangen: Er wolle „keinen Kasperl für einen entscheidungsunfähigen Brauereivorstand spielen“, der in immer kürzeren Zeitabständen einmal „Hü“ und einmal „Hott“ rufe.3 Am 6. März sind Bundestagswahlen. Strauß ist Spitzenkandidat der CSU.

Der TSV 1860, als dessen Präsident seit 1974 der CSU-Bundestagsabgeordnete Dr. Erich Riedl fungiert, ist pleite. Riedl redet mit OB Kiesl über eine Rettungsaktion, und der erreicht, dass der erst ab Juni amtierende neue Stadtkämmerer Dieter Grundmann eine Beschlussvorlage für den Stadtrat ausarbeitet, in der vorgeschlagen wird, dass die Stadt dem Verein für vier Millionen Mark die marode Turnhalle mitsamt dem Vereinsheim abkauft. Max von Heckel (SPD), noch amtieren-
der Stadtkämmerer, aber wegen Krankheit und Urlaub einige Zeit abwesend, entdeckt erstaunt, dass die Vorlage seinen Absender trägt: „Der Referent, von Heckel, Stadtkämmerer“.4 Der Unmut, dass mit dubiosen Methoden die 60er gerettet werden, während kleine Vereine mit der Begrün-
dung, der Stadtsäckel sei leer, nicht bekommen, ist groß.

Ronald Reagan hat seinen Besuch in der BRD angekündigt. Am 4. Juni beginnt der Parteitag der CSU. Am folgenden Tag findet eine Demonstration vom Parkplatz an der Gabelsbergerstraße zum Königsplatz statt. An der Spitze geht Franz Josef Strauß mit Frau und seinen beiden Söhnen. Aus ganz Bayern sind viele CSU-Anhänger – manche in Tracht – gekommen. Auf den Transparenten ist zu lesen: „Freiheit statt Sibirien“, „Obermenzing für Freundschaft mit den USA“, „Starnberg grüßt Reagan“, „Das Allgäu grüßt Franz Josef Strauß“.5

Es ist Wahlkampf. Hans Dietrich Genscher von der FDP wird des Verrats an der sozialliberalen Bundesregierung Schmidt beschuldigt. In München wird ein Wahlplakat, das FJS in die Hände klatschend zeigt, mit eine Papierstreifen „Danke, Hans-Dietrich!“ beklebt.6

Anfang Juli wird bekannt, dass CSU-Mitglied und Staatsschutzchef Hans Langemann über Jahre hinweg das Innenministerium mit „interessanten Informationen“ über sechs Journalisten versorgt hat, die kritisch über Franz Josef Strauß berichten.

Das Verwaltungsgericht verbietet am 23. September eine Demonstration, die sich anlässlich des Oktoberfestattentats gegen Strauß wendet.7 – „Der Ortsverband hat gegen das Verbot der Kundge-
bung ,Es klagen an’ zum zweiten Jahrestag des Oktoberfest-Attentats scharf protestiert, in der Presseerklärung hieß es, dass Bürgern mit der Vermutung möglicher ‚übler Nachrede’ das Grund-
recht auf Meinungsfreiheit und Versammlungsfreiheit genommen würde; das Grundrecht garan-
tiere, dass auch diejenigen ihre Meinung frei äußern dürften, die der Meinung seien, dass Mini-
sterpräsident Strauß durch seine Politik die Gewalttaten der Neonazis, die Übergriffe der Justiz bei der Massenverhaftung in Nürnberg und die Berufsverbotspraxis mit ihren Gesinnungsprüfungen möglich gemacht habe.“8 – Am 24. September planen SPD-Politiker eine Kundgebung gegen die-
ses Kundgebungsverbot.9 – Am 26. September findet die Protestkundgebung gegen das Verbot der Kundgebung „Es klagen an …“ statt.10 – Die Stadt verbietet erneut eine Veranstaltung „Wir klagen an: Opfer der von Strauß zu verantwortenden Politik in Bayern“ am 6. Oktober.11 – Am 7. Oktober bestätigt das Verwaltungsgericht dieses Verbot.12 – Am 8. Oktober genehmigt das Verwaltungsge-
richt die Demonstration „Es klagen an …“13 – Am 9. Oktober kommt es zur Kundgebung „Wir kla-
gen an …“ auf dem Königsplatz mit fünfhundert Teilnehmern.14

Am 4. Oktober findet eine Wahlversammlung der CSU auf dem Marienplatz statt, die wie immer von einer kleinen Gruppe störender, pfeifender Protestler begleitet wird.15

Nach dem Regierungswechsel vom 4. Oktober spricht sich Franz Josef Strauß, der erst vor einigen Monaten von den GRÜNEN als der „trojanischen Sowjet-Kavallerie“ gesprochen hat, unter dem Schlagwort „Pacta sunt servanda“ für die Fortsetzung einer realistischen Politik der Verständigung mit der DDR und den Staaten des Ostblocks aus. Zu dem Vorwurf eines „unverbesserlichen Revan-
chisten und Militaristen“ vom politischen Gegner trägt ihm dies nun heftige Kritik und die Vorwür-
fe eines „grenzenlosen Opportunisten und Verräters“ an den deutschlandpolitischen Zielen der Union aus der eigenen Partei ein. – Am 10. Oktober finden die Landtagswahlen statt.

„Münchens OB Erich Kiesl ist auf seinen Parteivorsitzenden Franz Josef Strauß sauer: Mit aller Entschiedenheit wies er gestern dessen Vorwürfe zurück, die Münchner CSU sei im Landtags-
wahlkampf zu lasch und im Stadtbild optisch nicht stark genug vertreten gewesen. ‚Natürlich darf unser Herr Parteivorsitzender sagen, was er will’, räumte Kiesl aufgebracht ein. ‚Wir aber nehmen es kritisch entgegen.’ Zu seiner Rechtfertigung hatte er sich extra von seinen Mitarbeitern eine Liste mit den in München angebrachten CSU-Plakaten anfertigen lassen. Allein 4.300 Strauß-Pla-
kate und 3.600 Ankündigungen für seine Rede auf dem Marienplatz seien in München zu sehen gewesen. Fast 40.000 Plakate warben für die Münchner CSU-Kandidaten. Kiesl: ‚Wenn es ge-
wünscht wird, kann Strauß natürlich noch mehr plakatiert werden.’“16

Siehe auch „Medien“ 1981, „Rechtsextremismus“ 1981 sowie „Zensur“ 1981 und „AusländerInnen“ 1982, „Medien“ 1982, „Rechtsextremismus“ 1982 sowie „Zensur“ 1982.

(zuletzt geändert am 24.6.2020)


1 Zit. in: die tageszeitung vom 6. Oktober 1982, 8.

2 Stadtchronik, Stadtarchiv München.

3 die tageszeitung vom 11. März 1982, 9.

4 Vgl. „Löwen und Pleitegeier. Skandal oder patriotischer Akt? Steuergelder für die Unterhaltungsindustrie Fußball“ von Rolf Henkel in: Die Zeit 20 vom 14. Mai 1982, 12.

5 Michael Rutschky: „Der Ministerpräsident“ in: Michael Rutschky (Hg), 1982. Ein Jahresbericht, Frankfurt am Main 1983, 155.

6 Vgl. a.a.O., 160.

7 Vgl. Süddeutsche Zeitung 220/1982.

8 Mitteilungen der Humanistischen Union vom Dezember 1982, 34.

9 Vgl. Süddeutsche Zeitung 221/1982.

10 Vgl. Süddeutsche Zeitung 222/1982.

11 Vgl. Süddeutsche Zeitung 231/1982.

12 Vgl. Münchner Merkur 232/1982.

13 Vgl. Süddeutsche Zeitung 233/1982.

14 Vgl. Süddeutsche Zeitung 234/1982.

15 Siehe „Ich werde jetzt wieder beschleunigen …“ von Michael Rutschky.

16 Abendzeitung vom 13. Oktober 1982.