Flusslandschaft 1981

Zensur

„Vor ein paar Wochen gab es in München wieder eine Hausbesetzung. Ein Reporter von der tz München wurde losgeschickt, um sich vor Ort über die Vorgänge zu informieren: Am nächsten
Tag wurde ihm die Geschichte entzogen. Der Polizeireporter wurde beauftragt, die Geschichte zu schreiben. Er holte seine Informationen ausschließlich bei der Polizei ein. – Bei der Räumung des Hauses wurden einige Hausbesetzer von Polizisten mit Schlagstöcken schwer verletzt. – Zensur findet nicht statt. So steht es jedenfalls in unserem Grundgesetz. Aber sie findet statt. Und zwar immer dann, wenn es gegen die Interessen der Verleger, ihrer Freunde aus anderen Industriezwei-
gen oder ihrer politischen Helfershelfer gebt. – Auch im Rundfunk. So wurde das liberal bis fort-
schrittliche ‚Notizbuch’, eine Sendung des Bayerischen Rundfunks, systematisch zerschlagen, unbeliebte freie Mitarbeiter nicht mehr beschäftigt. Heute liegt es stramm auf Linie. Auf CSU-Li-
nie. … Paul Sethe, ehemals Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen, sagte einmal: ‚Pressefreiheit ist die Freiheit von zweihundert Verlegern, ihre Meinung frei zu äußern.’ Dem wäre nur hinzuzu-
fügen: Journalisten sind dazu da, tagtäglich ihr Wissen und Können zur Verfügung zu stellen, damit die Meinung der Verleger wohlverpackt und gut leserlich auch an die Leute kommt. Der Bayerische Rundfunk als eine Anstalt des öffentlichen Rechts soll der Unterhaltung und ausgewo-
genen Information der Bevölkerung dienen. Der Bayerische Rundfunk dient jedoch weitgehend der einseitigen Darstellung der CSU-Politik und hat sich dadurch den Titel SCHWARZFUNK selbst zuzuschreiben. Die CSU betreibt im Bayerischen Rundfunk eine Personalpolitik und Programmpo-
litik, als wäre die Anstalt des öffentlichen Rechts’ ihr Privatbesitz. Der Stil dieser Personalpolitik (Ideologie und Linientreue gehen vor Fachwissen und Können) ähnelt der Praxis während der Nazizeit. Die direkte Einflussnahme auf das Programm (ganze Sendungen, Interviews) durch Parteigremien der CSU und einzelne Regierungsmitglieder, aber auch durch Unternehmerver-
treter, hat zum Sinken des Niveaus geführt. Zensur, zensurähnliche Maßnahmen und Selbstzensur im BR haben die journalistische Freiheit unter der Gleichschaltungspolitik der Reaktion bereits begraben. Die Medienpolitik dieser Kräfte ist verfassungsfeindlich, sie verstößt gegen den Artikel 5 des Grundgesetzes …“1

Im Mai zeigt Christoph Boekel in einem Münchner Kino seinen Film Der lange Atem, den er an
der Hochschule für Fernsehen und Film (HFF) als Examensarbeit hergestellt hat. Der Verfassungs-
schutz wertet den Film als verfassungsfeindlich, die HFF beginnt mit einer „Prüfung“ des Films.2

Im September entdeckt ein Beamter in einer Ausstellung im Europäischen Patentamt eine Grafik und ist entsetzt. Er konstatiert eine Verunglimpfung von Franz Josef Strauß und meldet dies der Staatskanzlei und dem Konsulat von Brasilien.3


Erst leitet die Münchner Staatsanwaltschaft ein Verfahren gegen die Abendzeitung ein, die eine Kritik des Films „Lili Marleen“ mit einem Filmfoto illustrierte, auf dem im Hintergrund ein Hakenkreuz zu sehen ist. „Nun sind die Hakenkreuz-Kammerjäger in München gegen Plakate
zu den Filmen „Mephisto“ und „Nach Mitternacht“ eingeschritten – das eine zeigt zwei winzige Hakenkreuze als Pupillen in den Augen der Hauptfigur, auf dem anderen ist das NS-Zeichen als kleines I-Pünktchen in der Titelschrift zu entdecken. In beiden Fällen gaben die Filmleute klein
bei – Mephisto wurden Augenklappen verpasst.“4

Bayrisches Fernsehen: „…Fünfmal schon hat sich der Sender aus dem Gemeinschaftsprogramm ausgeblendet; erstmals 1961 bei Kortners ‚Lysistrata’, bislang letztmals, 1977, beim Homo-Drama ‚Die Konsequenz’. Es mangelte auch nicht an Drohungen, sich ganz aus der ARD auszuklinken und ein eigenes Bier zu brauen; in Bayern gelten andere Reinheitsgesetze. Das Kreuz des Südens lastet schwer auf der ARDemokratie. Letzte Woche hat der Schwanz wieder den Hund zum Wackeln gebracht. Gedrängt vom Bayern-Programmdirektor Oeller und ‚mehreren Kollegen’ (Oeller), gab der WDR-Programmdirektor Hübner klein bei und zog einen WDR-Beitrag zurück. ‚Reinheit des Herzens’, ein Spielfilm des Berliner Regisseurs Robert van Ackeren, war für den 8. November im ARD-Programm geplant. Hübner retirierte bei seiner Entscheidung auf eine ‚Empfehlung der Pro-
grammkonferenz’ über ‚Gewaltdarstellung im Fernsehen’ und zitierte: ‚Das Programm ist darauf angelegt, jede Verharmlosung und Verherrlichung von Gewalt auszuschließen. Exzessive Darstel-
lungen von Gewalt sind unzulässig. Gleichzeitig soll einer Verrohung der Sprache entgegengewirkt werden.’ … Klar sind die Konsequenzen für die TV-abhängigen Filmer: Das Korsett wird enger. ‚Wenn ‘’Reinheit des Herzens’’ nicht im Fernsehen laufen kann’, fragt Fassbinder, ‚was soll dann noch an vernünftigen Sachen ausgestrahlt werden?’ Und Alexander Kluge findet es ‚verheerend, wenn die Programm-Verantwortung von den verantwortlichen Redakteuren zu den Programmdi-
rektoren abwandert und deren Konferenz von Bayern ferngelenkt wird’ …“5

Siehe auch „Schwule/Lesben“.


1 Ortsgruppe München. Deutscher Freidenkerverband e.V., Veranstaltungsprogramm 1982, 57 ff.

2 Siehe „Der lange Atem“ von Christoph Boekel.

3 Siehe „Wer hat den Strauß wohl abgehängt?“ von Peter M. Bode.

4 Der Spiegel 41 vom 5. Oktober 1981, 236.

5 Der Spiegel 43 vom 19. Oktober 1981, 267.

Überraschung

Jahr: 1981
Bereich: Zensur