Flusslandschaft 1946

Nazis

Mit dem „Gesetz zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus“, dem sog. „Befreiungs-
gesetz“, geht am 5. März die Entnazifizierung in deutsche Hände über. Es sollen zehn Spruchkam-
mern und zwei Berufungskammern eingerichtet werden.1

Im überfüllten Zirkus Krone an der Marsstraße 43 finden sich sich Verfolgte und Angehörige von Opfern am 10. März zu einer „antifaschistischen Kundgebung“ am „Tag der Opfer des Faschismus“ zusammen. Redner der Parteien SPD, KPD, CSU und der „rassisch Verfolgten“, der Gewerkschaf-
ten, Ministerpräsident Högner und der Münchner Oberbürgermeister Scharnagl zeigen sich ent-
schlossen zum Aufbau eines neuen, freien, gerechten und friedlichen Deutschland. Verfolgte sollen für das Leid umfassend entschädigt, der braune Ungeist ausgetrieben und „alle Hitlerverbrecher ohne Rücksicht für immer ausgeschaltet“ werden.2

Im Vorparlament, dem Vorbereitenden Verfassungsausschuss, meint am 9. April KPD-Parteisekre-
tär Bruno Goldhammer, dass Betroffene in einflussreichen wirtschaftlichen Stellungen mit Hilfe guter Anwälte sich ihrer Verantwortung entziehen können, die kleinen Pgs dagegen hätten die Möglichkeit professioneller Verteidigung nicht: „… Es ist eine Tatsache, dass wir nach wie vor un-
abkömmliche Pg-Direktoren haben und wenn sie einmal aus den großen Betrieben ausgeschaltet sind, dann haben sie gar keinen anderen Verlust erlitten, als dass sie Ferien in der Sonne des Früh-
jahrs machen können, wie sie vorher Winterferien machen konnten. Meine Damen und Herren! Legen Sie das bitte nicht als eine primitive Klassenkampfhetze aus, sondern langsam ist es so, dass sowohl den kleinen Pg’s als auch den nicht belasteten kleinen Leuten die Galle in dieser Beziehung überläuft … Ich möchte feststellen, dass Herr Fritz Deckel, Direktor der Deckel-Werke München, sich ebenfalls durch Rechtsanwalt vertreten lässt, wenn er sich vor dem Arbeitsamt wegen Arbeits-
verweigerung verantworten soll. Und er hält es gut aus, weil er in seinem Gut in Königsdorf bei Wolfratshausen in Ruhe die Zeit abwartet, die seiner Meinung nach für ihn arbeitet. Kommerzien-
rat Sedlmayr, auch einer der edlen Gestalten des Münchner Lebens, Generaldirektor der Spaten-Franziskaner-Leistbräu, ein PG. und namhafter Förderer, Spender von Millionen für die NSDAP., ist ebenfalls noch Generaldirektor der Brauerei und muss sich keine Sorge darum machen, was eigentlich jetzt mit den Menschen geschieht, die die Politik dieser Förderer bis an den Rand des Abgrunds und ins Elend gebracht hat. Herr Fuhrwerksunternehmer Lehner war Mitglied der SS, ist heute noch im Besitz der besten und meisten Kraftfahrzeuge von München und hat unter der Naziherrschaft Millionen verdient. Aber er findet doch noch eine Möglichkeit, mit der Hilfe von Juristen die Dinge soweit hinauszuschieben, dass ihm weder die Vorstellungsverfahren der Ameri-
kaner, noch alle anderen deutschen Behörden bisher etwas antun konnten. Meine Damen und Herren! Hier ist irgend etwas unmoralisch und ich meine jetzt Moral nicht im spießigen Sinne, sondern ich meine sie einmal im wirklich menschlichen Sinn. Hier ist irgend etwas unsittlich, wogegen wir uns wehren sollen …“3

In Kinos sind Dokumente über die Greuel in den Konzentrationslagern zu sehen.4

Am 13. Mai nehmen die ersten Spruchkammern in Bayern die Arbeit auf. In der ersten Münchner Spruchkammersitzung am 15. Juni sind der Hausdiener der Universität, Jakob Schmid, und der Hausmeister der Universität, Albert Scheithammer, die am 18. Februar 1943 die Geschwister Scholl dem Syndikus der Universität Dr. Häffner übergaben, der sie wiederum der Gestapo aus-
lieferte, angeklagt. Schmid, das unterste Glied in der Kette, „unbedeutend an Körper und Geist“5, wie der Ankläger meint, wird zu fünf Jahren Arbeitslager verurteilt. Sein Vorgesetzter, Scheit-
hammer, kommt mit einem Sühnebescheid von 2.000 Mark und der Einstufung in die Klasse der Mitläufer davon. Dr. Häffner befindet sich sogar unter den Zeugen der Anklage. — Die Arbeit der Spruchkammern unterscheidet sich schon bei der ersten Verhandlung nicht von der bürgerlichen Klassenjustiz, wie sie seit zweihundert Jahren richtet. Richter sind gegenüber Angehörigen der Klasse, zu der sie auch zählen, die ihre Sprache sprechen und ihre Umgangsformen beherrschen, nachsichtig; grobschlächtige, ahnungslose Proleten oder sprachlose Angehörige des Bauernstandes verdienen dagegen die volle Härte des Gesetzes.

Ehemalige Nazis versuchen, in den neu gegründeten Parteien und Gewerkschaften unterzuschlüp-
fen. Manche Organisationen verwahren sich gegen diese Absichten. Aber auch sonst stößt die Ent-
nazifizierung auf viele Schwierigkeiten.6

Klar, dass die vielen Nazis der Zeit vor 1945 nicht vom Erdboden verschluckt wurden, dass einige von ihnen versuchen, sich der neuen Zeit anzupassen, dass einige tatsächlich versuchen umzuden-
ken und dass – wie viele sind es? – einige „überwintern“, ihre Symbole und Parolen streuen, wo es ungefährlich ist, und auf neue, bessere Zeiten hoffen.7

6.000 Menschen stehen bei der Großkundgebung der KPD am 9. November auf dem Odeonsplatz vor der Feldherrnhalle. Staatsminister a.D. Heinrich Schmitt, der Anfang Juli sein Amt als Sonder-
minister aufgeben musste, spricht über Entnazifizierung.

Im Februar 1946 ist Albert Lörcher8 als Sonderbeauftragter für Oberbayern ins bayrische Ministe-
rium für Entnazifizierung eingetreten. Er hatte schon schlimme Vorahnungen und stellt jetzt fest, dass es beinahe unmöglich ist, für die Besetzung der Spruchkammern geeignete Leute zu finden. Resigniert scheidet er im Dezember aus den Diensten des Ministeriums aus. Sein Resümee: Die Entnazifizierung ist gescheitert. Leonhard Eckertsperger, Mitglied einer Spruchkammer im Ober-
allgäu, meint Jahre später zu seinr Tochter Gabriele: „Woasst, wannst an kloana Fahrkartenkon-
trolleur von der Reichsbahn verknackst, weil er a Nazi war, und die allerobersten Nazis laffa frei rum, da stimmt wos net!“7

Siehe auch „Religion“.


1 Vgl. dazu auch Paul Hoser, Die Entnazifizierung in Bayern, in: Walter Schuster/Wolfgang Weber (Hg.), Entnazifizierung im regionalen Vergleich, Linz 2004, 473 – 510.

2 Foto: Antifa-Kundgebung im Zirkus Krone am 10. März 1946, Standort: Haus der Bayerischen Geschichte, Signatur: bp-0324.3.4.

3 Bay. Beratender Landesausschuss am 9. April 1946 im Bayerischen Hof, München, Prannerstraße, 41 f., Bayerische Staatsbibliothek.

4 Foto: Filmplakat „Todesmühlen. Das authentische Filmdokument aus den Konzentrationslagern“ im Luitpoldtheater, Standort: Haus der Bayerischen Geschichte, Signatur: bp-0070.2.6.

5 Süddeutsche Zeitung 49 vom 18. Juni 1946, 4.

6 Siehe Gerstenbergs „Auf Grundlage der Direktive Nr. 24 …“ und „Ein offenes Wort an einen ehemaligen Naziführer“ von Georg Reuter; Foto: Der angeklagte Hausmeister der LMU vor der Spruchkammer am 15. Juni 1946, Standort: Haus der Bayerischen Geschichte, Signatur: bp-0426.2.4.

7 Siehe „Wort zur Zeit“ von Heinz Hartwig.

8 „Ein Unentbehrlicher. Nachruf für Albert Lörcher (10. Juni 1913 – 8. Februar 1997) – „Manche kämpfen ihr Leben lang. Diese sind unentbehrlich.“ (Brecht) – Er hätte sehr geschimpft, wenn ihn jemand zu seinen Lebzeiten so genannt hätte. Wer ihn nicht näher kannte, gewann den Eindruck eines umgänglichen Mannes, der großen Wert auf gepflegtes Äußeres legte, gerne wanderte und leidenschaftlicher Skiläufer war. Der gern feierte mit Freunden und vor allem mit Gretl, seiner Frau. Wer ihn näher kennenlernte, spürte seinen zuweilen etwas hintergründigen Humor. Dass er sein ganzes bewusstes Leben mit unermüdlicher Konsequenz für den Sozialismus, gegen die Nazis, Kriegstreiberei und Unterdrückung der Arbeiterklasse kämpfte, wusste, wer ihn näher kannte. Es gab wenige, die sich so unerschütterlich für eine menschliche Gesellschaft ein-
setzten und so wenig verbissen waren. Die Kameradschaft in der Sozialistischen Arbeiterjugend, der Widerstand gegen die Faschisten, Misshandlungen durch die Gestapo, Gefängnis und KZ, Bewährungseinheit 999, schwerer Neuanfang nach amerikanischer Kriegsgefangenschaft, Enttäuschung über die politische Entwicklung in Nachkriegsdeutschland haben ihn geprägt. Sein Leiden und seine Enttäuschungen (auch über manche, die er für Mitkämpfer hielt) hat er in Kraft verwandeln können. Er hat gegen die Restauration des Kapitalismus in Westdeutschland gekämpft – als Gewerkschafter nicht immer zur Freude seiner Vorstände – als SPD-Mitglied noch weniger zur Freude seiner Parteiführung, in der Lagergemeinschaft Dachau, als Mitbegründer des Archivs der Münchner Arbeiterbewegung u.v.a. Er war immer bereit, Linken mit Rat und Tat zu helfen. Parteigrenzen waren zweitrangig. Vor allem hat er gern und oft jungen Menschen das Wissen und die Erfahrun-
gen seines opferreichen und kämpferischen Lebens vermittelt. Er hinterlässt eine Lücke, die sich nicht schließen lässt. Er würde von uns erwarten, dass wir es versuchen.“ Freidenkerinfo vom Mai 1997, 10.

7 Gabriele Duschl-Eckertsperger am 15. März 2021