Materialien 1983

Am Sonntag davor ...

hält der Sollner Pfarrer von der Kanzel herab eine Laudatio für die Aufrüstung. Brigitte S., Strauß-Fan und praktizierende Katholikin, war bedrückt. „Wenn ihr nach Ulm fahrt“, sagte sie, „lasst mir eure Kinder da“.

„Das ist doch nichts“, sagte Werner Sch.-F. (Architekt).

„Da kommt doch niemand. Das ist viel zu unbequem für die meisten, die auch für den Frieden sind. Ich würde Kerzen in die Fenster stellen oder vorschlagen, dass alle mal einen Abend aufs Fernsehen verzichten.“ (An der Wasserspülung ziehen usw.)

Er lehnt sich zurück und doziert langsam: „Der wahre Friede fängt im kleinen an — im Kreise der Familie.“

In der Nacht vor der Fahrt hatte ich einen Traum: Tilman und ich waren aufgestanden — es war noch dunkel draußen. Wir zogen uns für die raue Schwäbische Alb warm an. Als wir aus dem Küchenfenster auf die Hochhäuser gegenüber schauten, waren diese hell erleuchtet. Überall brannte Licht, alle rüsteten sich für Neu-Ulm! Als wir am Samstagmorgen, sechs Uhr, dann wirklich hinüberschauten, standen sie da: dunkle Kästen, mit dunklen Fensterhöhlen — kein Hoffnungslichtlein zeigte sich. Wir waren allein. Das heißt zu viert, Heike und Dieter M. (Kinderpsychotherapeutin und Geschäftsführer einer Anlagefirma) waren auch dabei. Wir gehörten keiner Friedensgruppe an, die Fahrkarten hatten wir uns in einem Schwabinger Buchladen besorgt. „Wann es zurück geht?“ — „Open end“, war die Antwort. Wir beschlossen daraufhin, die Kinder nicht mitzunehmen.

Unten an der Haustür trafen wir auf Helga S. (Fotografin), die sich zu ihrem Bus von „Rathausleuten“ auf den Weg machte.

Im zweiten Stock brannte Licht im Bad von Angie M. (Ärztin), sie fuhr erst eine halbe Stunde später vom Königsplatz — im Bus der Strafverteidiger. Von den sechs Parteien unseres Hauses waren drei auf dem Weg nach Jungingen. Dort trafen wir auch unsere Hausbesitzerin, Frau Dr. Marianne R. — Wir haben ein friedliches Haus.

Die halbbesetzten Busse am Bahnhofsplatz waren nicht für uns bestimmt. „Ihr müsst verstehen, dass wir die Busse erst mit den Mitgliedern unserer Friedensgruppe füllen — wenn dann noch Platz ist, könnt ihr auch reinkommen!“ Nach der fünften Absage und guten Ratschlägen „Habt Vertrauen, ihr kommt bestimmt alle mit!“, entwickelten wir mit einem Dutzend weiterer Abgewiesener den Plan, die neuankommenden Busse noch vor dem Bahnhofsplatz zu kapern. Der erste Versuch misslang. Der Cerberus an der Tür hatte ein scharfes Auge, wer zu seiner Truppe gehörte und wer nicht. Beim zweiten Mal gelang es. „Maxvorstadt“, „Maxvorstadt einsteigen!“ „Seid ihr Maxvorstadt?“ Lächelnd bejahten wir und gehörten ab da zu den „lustigen Maxvorstadtlern“ mit ihrer himmelblauen Fahne und der weißen Taube drauf. Sie gruppierte sich um den Illustrator Ali M. Bis zum graumelierten Schnauzer war er eingewickelt in einen gestreiften Schal — bunt wie seine Kinderbücher. Um uns herum lauter Jungzwanziger — scheinbar aus einem Studentenheim. In großen blauen Müllsäcken hatten sie ihre Verpflegungspakete mit.

Uns überholten Busse aus Ebersberg, Pfarrkirchen und Traunstein. Geschrei und Gewinke hinüber und herüber. Am Menzinger Kreisel sammelte sich die Motorradgang „Kuhle Wampe“ — die heißen Ofen taubengeschmückt.

Vorne im Bus Mandolinenklänge, Zeitungen rascheln, Gekicher, Schokolade wird rumgereicht.

„Hinsetzen! I mog wegn solche wie euch net mei Lizenz verliern!“ bellt der Busfahrer durchs Mikrophon.

Wie angenehm ist da die warme Hand meines kleinen Kettennachbarn auf der frostigen Alb.

„Das mir gerade auch andere Seite sagen!“, lacht er, und man erkennt den Italiener.

Der warme Händedruck geht weiter.

Ute Michalski


kürbiskern. Literatur, Kritik, Klassenkampf 1/1984, 18 f.