Materialien 1992

Weihnachtsbotschaft

„Warum zum Teufel gehen die Intellektuellen nicht ins Volk, statt es zu beschimpfen.“

Die Ausländerfrage ist eine Inländerfrage. Von der abstrakten Vorliebe „der“ Intellektuellen für „die“ Ausländer führt keine Brücke in die Realität. Denn die Realität besteht hauptsächlich aus Inländern. Und Inländer können unsere Intellektuellen nicht leiden; der Satz ist nützlicherweise doppeldeutig. Inländer können Intellektuelle nicht leiden; Intellektuelle können Inländer nicht leiden. Der Grund dafür ist der Abgrund zwischen ihnen.

Vorliebe für Ausländer ist ein edles Gefühl, das ich herzlich teile. Ausländerhass der Inländer ist ein unedles Gefühl, das ich herzlich verabscheue. Noch mehr als den Ausländerhass des Volkes verabscheue ich den Volkshass der Intellektuellen. Sie hassen Angstvolle, Ratlose, soziale Under-
dogs, eigene Landsleute. Das gehört sich nicht. Dass die Intellektuellen die Inländer auch noch als Faschisten diffamieren, ist verräterisch. Abgesehen von dem Prozentsatz, zu dem es wahr ist; denn tatsächlich sind unsere eigenen Leut‘ teilweise faschistisch. Im übrigen zeigt diese Denunziation des eigenen Volkes, dass die Intellektuellen selber Angstvolle sind, Ratlose, intellektuelle Under-
dogs. Geistig Minderbemittelte; geistig bemittelt ist, wer das Hirn voll positiver Ideen hat. Das Hirn ist leer.

Das wild-wahllose Herumwerfen mit der Faschismus-Vokabel ist die letzte Kampfesdisziplin, in der die heimische Intelligenz noch Meister ist. Sonst fallt euch nix ein.

Früher ist uns mehr eingefallen. Rotes, Grünes, Hellschwarzes gar (Sozialchristliches). Jetzt nur öde Schimpferei.

In immer neuen immer denselben Diskussionsrunden holen wir uns ständig einen herunter. Das kann nicht gesund sein fürs Rückenmark, da haben die alten Fundi-Christen irgendwie recht.

Als im „Club 2" wieder einmal die Crème de la crème der ganzen Intellektuellen- und Experten-
bande beisammen saß, dicht gedrängt auf Sofa und Fauteuils, leistete ich mutwillig Gastgeber-Selbstkritik. Eigentlich gehören da, sagte ich, ein paar Mitbürger her von Stammtisch und Straße.

Da hätte sie, sagte eine erstklassige Expertin, physische Angst. Keine Angst, ein braves Fernsehen lässt solche Leute eh nicht zubi.

Wir bleiben Mädchen unter uns, die ihre süßen fortschrittlichen Geheimnisse austauschen. – Das wird nicht mehr, als es eh schon ist. Nix.

Wir Intellektuellen müssen „Narodniki“ werden, so nannten sich die russischen Sozialrevolutionä-
re: Gänger ins Volk. Statt Idioten, so nannten die Griechen Leute, die sich nur mit sich selber be-
fassen.

Mit nichts als Angst, liebe Mitintellektuellinnen, läuft nichts. Jetzt ist Mut erforderlich, angstvoller, ratloser, wohlüberlegter Mut.

Die Wohlüberlegung lautet: Je angstvoller und je ratloser wir sind, desto mehr müssen wir uns trauen.

Warum zum Teufel gehen die Intellektuellen nicht ins Volk, statt es zu beschimpfen? Sie täten dort was lernen.

Wer ist schuld, wenn Asylantenheime brennen, hilflose Frauen und Kinder gemeuchelt werden, Gewalt zum letzten Jugendideal aufrückt?

Wir.

Die Sinnlosigkeit, die Eiseskälte, die einprogrammierte Lieblosigkeit, das vereinigte progressive Höllengelächter über Predigten wie diese hier:

Es ist unsere Schuld, unsere übergroße Schuld. Wir, die Demokraten, die wir keine sind, bringen in unsere Demokratie, die keine ist, keinen Sinn, keine Wärme, keine Liebe. Kriegen die Menschen keine richtigen Gefühle, nehmen sie die falschen. Die falschen Gefühle sind richtiger als gar keine.

Das ist, für die Dummen sei‘s gesagt, keine Entschuldigung für Brand und Mord, es ist ein Hinweis zur Ergreifung der wahren Täter und ihrer Hintermänner.

Wir sind die wahren Täter, wir sind die Hintermänner. Wir sollten uns freiwillig stellen bei der zu-
ständigen gerichtlichen Instanz, beim moralischen Salzamt. Wir sollten ein umfassendes Geständ-
nis ablegen und endlich konkret angeben, wie wir unsere tätige Reue zu vollbringen gedenken.

Hunderttausende sind in Deutschland unterwegs, in Österreich Tausende (wir sind ja auch kleiner) – sie sind das wunderbare Gegenbild zu Hass und Gewalt. Diese naturwüchsige Bewegung zu er-
gänzen durch die nötigen konkreten, positiven Inhalte – welche Aufgabe für eine neue Intelligenz!

P.S. Nachgeholte Definitionen: Das Volk sind die Leut‘, die wir Intellektuelle nicht leiden können. Die Intellektuellen sind die, die ich nicht leiden kann. Intellektuell bin ich selber.

Günther Nenning


Profil 50 vom 7. Dezember 1992, 84.