Flusslandschaft 1992

Rechtsextremismus

In der Silvesternacht 1991/92 kommt es zu einem missglückten Brandanschlag auf die Zentrale
der Deutschen Volksunion (DVU) des Gerhard Frey, Herausgeber der National-Zeitung, in der Paosostraße 2 in Pasing. Lediglich Freys Auto wird beschädigt. Am 23. Januar verhaftet die Polizei Norbert und Annette. „Die Staatsanwaltschaft beantragte einen Haftbefehl, der vom Landgericht abgelehnt wurde. – Am 29. Juni 1992 wurden erneut die Wohnungen der beiden durchsucht. Diesmal, weil die Polizei vor den Verlagsräumen des Münchner Anzeigers (Blatt mit rechtsex-
tremen Inhalten) und vor dem AVÖ-Laden (rechtsextremes Propagandabüro) Rohrbomben ent-
deckt hat. Viele AntifaschistInnen halten diese Anschläge allerdings für eine Staatsschutzaktion. Sie fanden im Vorfeld des WWG statt und ermöglichten dem Staatsschutz weitere Repressionen. Außerdem hätten bei Explosion der Bomben HausbewohnerInnen oder PassantInnen zu Schaden kommen können, was nicht auf AntifaschistInnen als TäterInnen schließen lässt. In diesem Zu-
sammenhang wurden Ermittlungsverfahren nach § 129a (Bildung, Werbung und Unterstützung einer terroristischen Vereinigung) eingeleitet, mittlerweile aber nach §170 StPO (Mangel an Be-
weisen) eingestellt. – Im Juni 1993 erhob die Justiz schließlich eine Anklage in Sachen DVU wegen versuchter Brandstiftung. Die Staatsanwaltschaft beantragte erneut Haftbefehl. Es wird demnächst zum Prozess kommen, ein Termin steht noch nicht fest. – Die Betroffenen“1

„Neues von Nation und Europa – Vorbildfunktion für die zersplitterte Rechte in der Bundesrepu-
blik – »Mit der Erweiterung um die Ex-DDR ist Deutschland wieder in das geopolitische Kraftfeld seiner mitteleuropäischen Bestimmung eingetreten. Noch spiegelt sich diese Neuorientierung nicht im bundesdeutschen Parteienspektrum wider. Doch die Zeit arbeitet, nicht zuletzt für die politische Rechte, die sich gegenwärtig überall in Europa als Speerspitze der Befreiung von Zentralismus und internationalistischer Unterdrückung formiert.« – So die Auffassung von Karl Richter, Chefredak-
teur der Monatszeitung »Deutsche Rundschau« (Organ der rechtsextremen Sammlungspartei »Deutsche Liga für Volk und Heimat« – DL) und seit Januar 1992 verantwortlicher Redakteur des in Coburg im 42. Jahrgang erscheinenden Periodicums »Nation und Europa«. Deutsche Monats-
hefte zur europäischen Neuordnung (NE). – Der dreißigjährige Münchner ist gemeinsam mit dem national-revolutionären Osteuropaexperten Wolfgang Strauss in die Redaktionsgemeinschaft von NE (Auflage ca. 20.000 Exemplare), dem bedeutendsten ideenpolitischen Organ der Rechtsextre-
misten jeglicher Couleur in der Bundesrepublik, aufgenommen worden. – Als Herausgeber treten Dehoust, der 57 % Gesellschafteranteile innehat, Adolf von Thadden, ehemals NPD-Bundesvorsit-
zender, und Harald Neubauer, Bundessprecher der DL, zuvor Generalsekretär der Republikaner, unterstützend zur Seite. – Dehoust, einer der Gründungsväter der DL, will nach eigenem Bekun-
den, »nach 20 Jahren Alleinverantwortung für Redaktion und Verlag als Geschäftsführer, Zeit für das Wesentliche gewinnen« und sich »noch mehr der Einheit der politischen Rechten widmen.« – Tatsächlich ist es ihm mit diesem Coup gelungen, den Fusionsprozess im rechtsextremen Lager einen Schritt weiterzubringen. Der Einheit im publizistischen vorpolitischen Raum könnte – das endgültige parlamentarische Scheitern von NPD und REP vorausgesetzt – auch die Einheit in einer politischen Formation folgen. – Richter abschließend: »Wenn in Bonn nicht erkannt wird, wohin die Reise in den Neunzigern geht, dann ist dies der Anfang vom Ende überlebter Machtstrukturen in der Bundesrepublik. In Frankreich, Österreich und Italien fahren nationale Parteien inzwischen mit schöner Regelmäßigkeit zweistellige Wahlergebnisse ein. Das muss auch in Deutschland so werden. Hierfür die Voraussetzungen zu schaffen, darin liegt für die rechte Szene hierzulande die eigentliche Aufgabe des Jahres 1992.« – Anton Maegerle“2

Für manche Beobachter ist München wieder zur „Hauptstadt der Bewegung“ geworden.3

Vom 22. bis zum 26. August greifen Randalierer im Rostocker Stadtteil Lichtenhagen unter dem Beifall und der Beteiligung Tausender Anwohner ein Asylbewerberheim und eine Unterkunft vietnamesischer Vertragsarbeiter an. Die Polizei schaut zu.

Ein Münchner Postbeamter schreibt an die Zeitung der Deutschen Postgewerkschaft (DPG): „Die Tendenz Ihrer (unserer) Zeitschrift gefällt mir nicht mehr, wenn es um das Thema Ausländer geht. Ich bin der Meinung, dass Sie die Mehrheit der Mitglieder der DPG in dieser Frage nicht mehr richtig vertreten. Es gibt in Deutschland eine sehr aktive Minderheit, die Parolen wie »Deutschland ist ein Einwanderungsland, die multikulturelle Gesellschaft ist in Deutschland erforderlich, Deut-
sche sind ausländerfeindlich« dazu ausnutzt, Schuldgefühle in Leuten zu erzeugen, die Schwierig-
keiten haben, die Absicht dahinter zu durchschauen. »Wir sind bereits multikulturell, Deutschland war schon immer ein Schmelztiegel, man muss doch was tun für diese armen Leute, Ausländer ver-
dienen unsere Renten und machen unsere Dreckarbeit, das Boot ist noch lange nicht voll«, das sind Sprüche, die der Bild-Zeitung würdig sind. Für Menschen, die dieses deutsche Vaterland lie-
ben, gibt es keine Verpflichtung, Deutschland mit immer noch mehr Menschen immer noch voller zu stopfen. Wir brauchen diese Leute nicht, und die Mehrheit will sie auch nicht. Wir haben ausrei-
chend eigene Arbeitslose. Die Leute, die von der Notwendigkeit schwafeln, pro Jahr 300.000 Aus-
länder aufzunehmen, meinen die Notwendigkeiten der internationalen Großindustrie auf billige Arbeitskräfte. Klaus Keding, 8000 München.“4

Münchnerinnen und Münchner fahren mit Bussen und mit dem Zug nach Berlin: Am 8. November demonstrieren hier 350.000 gegen Ausländerhass. Auch die Spitzenpolitiker – Bundespräsident Richard von Weizsäcker, Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth, Kanzler Helmut Kohl und fast alle Regierungschefs der Länder – marschieren mit. Joachim Hirsch dazu: Es war „eine Heuchler- und Schaufensterveranstaltung. Die Brandstifter haben Feuerwehr gespielt. Diejenigen, die das böse Wort von der »Asylantenschwemme« in die Welt gesetzt haben, um damit ihr parteipolitisches Süppchen zu kochen, haben kalte Füße bekommen. Weniger in der Sorge um demokratische und humane Verhältnisse, sondern weil offener und gewalttätiger Rassismus und Antisemitismus das Image des Kapitalstandorts Deutschland zu schädigen droht. Ihnen ging es nicht um die Ursachen, wozu sie selbst zählen, sondern vor allem darum, daß das Thema aus der internationalen Presse verschwinden sollte.“5

München: „Das Metropolis wird zur Hochburg der antirassistischen Bewegung. Nach dem Boom-Concerts seine »Töne/Gegentöne« hören ließ, initiierte nun für den Sonntag, 22. November, das Theater »EX« einen Abend der »Kultur gegen Rechts«. Zum erstenmal rauften sich Künstler aus den verschiedensten Richtungen zusammen: Schauspieler, Tänzer, Jazzer, Rocker, Kabarettisten und Schriftsteller. Anstoß zur Veranstaltung um 20 Uhr war der Aufruf des Deutschen Theaters in Berlin an alle Theaterschaffenden, gegen den Rechtsradikalismus vorzugehen. Ludo Vici vom EX-Theater: »Da wir der Meinung sind, daß sich sowohl die freie Szene als auch die großen Theater bisher durch zu ruhiges Verhalten ausgezeichnet hat, riefen wir ,Kultur gegen Rechts‘ ins Leben.« Die sonst als »träge« beschimpfte Szene rührte sich. Performances stehen im Zentrum des gemein-
sam gestalteten Programms. Die Bandbreite der teilnehmenden Künstler reicht von Bands wie Zauberberg oder Big Family über die Kabarettisten Gruppo di Valtorta und dem AZ-Karikaturisten Klaus Espermüller bis zum Schauspieler Nik Neureiter vom Residenztheater. Über 50 Künstler sagten ihre Mitwirkung in irgendeiner Form zu und verzichten auf eine Gage. Der Eintritt von 25, ermäßigt 15 Mark, soll an Organisationen weitergeleitet werden, die sich um Opfer des Rassismus kümmern.“6

Am 23. November kommt es im schleswig-holsteinischen Mölln zu zwei rassistischen Brandan-
schlägen. Die 51-jährige Bahide Arslan und zwei ihrer Enkelinnen, die 14-jährige Ayşe Yilmaz und die 10-jährige Yeliz Arslan, sterben; neun Menschen werden zum Teil schwer verletzt.

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15. Dezember: Prozess gegen autonome Antifas in der Nymphenburgerstraße. Und: „In einem BekennerInnenschreiben berichtet die autonome Umweltschutzgruppe »Antifaschistische Aktion« über einen stadtbekannten Münchner Verschmutzer und die vorläufige Säuberung seines überre-
gional aktiven Misthaufens. Am 15. Dezember 1992 wurde das geruchsbindende Reinigungsmittel Buttersäure in den AVÖ-Laden (Herzog-Heinrich-Straße 30) des militanten Nazi Ewald Bela Alt-
hans »befördert« und auf diese Weise der braune Mief unter dem Motto »Altpapier, Altglas, Alt-
hans – Mach’ mit, der Umwelt zuliebe…« kräftig ausgelüftet. Hatte Althans noch in einem amou-
rösen Schreiben an die NaturfreundInnen davon geschwärmt, dass »(…) Autonome und Neonazis (…) junge, dynamische Kräfte (sind), die sich nicht gegeneinander ausspielen sollten«, dürfte dem Luftverpester nun unmissverständlich klar sein, dass derartige christliche Feindesliebe ganz und gar nicht auf Gegenseitigkeit beruht… (Der Umweltengel)“8

Am Nikolaustag stehen nach den Brandanschlägen gegen Ausländer fast eine halbe Million De-
monstrantinnen und Demonstranten in München mit Kerzen, Fackeln und Lampions auf der Straße. Danach kommt es auch in Berlin, Köln, Hamburg und in weiteren Städten zu „Lichter-
ketten gegen rechts“. Was sie nicht zur Kenntnis nehmen: Mitleidloses Einprügeln auf das „Frem-
de“, das „Andere“ entsteht in einer Wirtschaftsordnung, in der Konkurrenz und Ellenbogenmen-
talität das Überleben sichern, in einer Wirtschaftsweise, die ohne Reservearmeen und Deklassie-
rung, ohne Förderung der Aggressivität und Anbetung des Erfolgs nicht auskommt.

In einer Münchner Wohngemeinschaft hat sich eingebürgert, im österreichischen Fernsehen den „Club 2“ zu hören. Und auf der Toilette liegt wöchentlich neu der österreichische „Spiegel“, das „Profil“ aus Wien. Die Streitereien unter den BewohnerInnen sind heftig.9

Die rechtsextreme Szene erfasst immer häufiger antifaschistische Journalisten und andere Einzel-
personen und veröffentlicht diese in ihrer Presse.10

Rechtsextreme Gewalttaten fordern 1992 in Deutschland 27 Tote.

Siehe auch „AusländerInnen“, „CSU“ und „Flüchtlinge“.

(zuletzt geändert am 14.10.2024)


1 Stadtratte 17 vom Oktober/November 1993, 9. Siehe „Münchner Rechtsprechung“.

2 links. Sozialistische Zeitung 262 vom März 1992, 31.

3 Siehe „Der Marsch ins Vierte Reich“ von Ralph Homann.

4 Deutsche Post. Zeitschrift der Deutschen Postgewerkschaft 11 vom November 1992, 6.

5 links. Sozialistische Zeitung 271/272 vom Dezember 1992/Januar 1993, 5.

6 Abendzeitung vom 21./22. November 1992, 25.

7 Plakatsammlung, Archiv der Münchner Arbeiterbewegung

8 Stadtratte 12 vom Februar 1993, 1.

9 Siehe „Weihnachtsbotschaft“ von Günther Nenning.

10 Siehe „Systematische Erfassung“ von Christian Abs.