Materialien 1993

Das schwarz-rot-goldene Manifest

Am 30. Januar diskutierte das „Bündnis gegen Rassismus“ über die Lage in Deutschland und der daraus folgenden Stoßrichtung einer antirassistischen/antifaschistischen Bewegung. Hier ein Beitrag aus dieser Debatte.

Keine Entwarnung

Der Asylkompromiss ist durch. Die alldeutsche Parteienkoalition hat sich durchgesetzt. Die Welle ausländerfeindlicher Ausschreitungen müsste eigentlich beendet sein, würde man unseren Oberen Glauben schenken. Dem ist nicht so, und das kann auch der milde Schein der Lichterketten nicht vertuschen. Die Todesbilanz allein der letzten Januarwoche: In Selbstmord getrieben wegen Abschiebung in München (schon der zweite Fall), Brandanschlag auf Obdachlosenheim – zwei Tote, eine Linke in Freiburg durch Briefbombe zerfetzt, ein Behinderter in einem Kaufhaus in NRW von Skins zu Tode getrampelt. Das ist trotz Informationssperre und Vertuschung an die Öffentlichkeit gedrungen. (…) Staat, Kapital fahren weiterhin eine Doppelstrategie: Einerseits sog. Ausländerfreundlichkeit – die Vorzeigedeutschen für’s Ausland – und andererseits Duldung bzw. Förderung von Rassismus.

Das Ende der alten BRD?

Es geht dem Staat nicht nur um die Flüchtlinge, es geht nicht nur um die Ausländer, es geht um einen anderen Staat, eine andere Gesellschaft – und das in einer Schnelligkeit, die man vor dem Mauerfall nicht für möglich gehalten hätte. Was in den 70er und 80er Jahren schweigende Masse war, klatscht heute beim Abfackeln. Mit dem Fall der Mauer sind auch jegliche Hemmungen und Tabus von wegen Nazivergangenheit und III. Reich gefallen. Deutsch steht wieder ganz oben an und wird wieder groß geschrieben.

SPD wie Grüne üben den nationalen Konsens über kleinliches Parteiengezänk hinweg in den Lebensfragen unserer Gesellschaft: Ausländer raus – Deutschland den Deutschen, Die Führungsrolle Deutschlands muss militärisch erprobt werden (Ersteinsatz unserer Jungs als Blauhelme verkleidet) und der Solidarpakt (früher hieß er: Burgfrieden, dann: Gemeinnutz geht vor Eigennutz oder: Wir müssen alle an einem Strang ziehen.) Deutschland hat – wie wir sehen – eine Menge vor. Da ist das deutsche Volk noch gar nicht darauf vorbereitet, das muss erst zugerichtet werden. Dazu muss der nationale Konsens noch tief im ganzen Volk verankert werden. Und niemand soll sich ungeschoren verdrücken können. In der sog. Ausländerfrage ist man bewusstseinsschaffend und volksbildend ganz flott vorangekommen.
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Wir [sind] auf Kampfeinsätze weder materiell noch psychologisch vorbereitet… Es geht darum, nicht nur die Soldaten, sondern die ganze Gesellschaft auf die neuen Aufgaben vorzubereiten. (Rühe)
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Aber in Sachen: Germans to the front und Solidarpakt stehen die Zeichen für unsere Oberen schlecht. Krieger Rühe von der Hardthöhe aus beklagt die Kriegsuntauglichkeit unserer Jugend. Fürwahr, mit solchen verweichlichten, individualistischen Jungs, mit Softies und Schlaffis, mit diesen „feigen Pfeffersäcken“ (Spranger) kann man ehrlich keinen Staat, geschweige denn einen Krieg machen. ‘Neue Männer braucht das Land’, nur leider nicht so, wie es die Frauen sich vorgestellt haben.

Da hätten die Stoßtrupps von Skins und Neonazis schon das rechte Deutschlandbewusstsein, um dem deutschen Wesen auch im Ausland zum Durchbruch zu verhelfen. Den Gymis und Studis, den bislang ziemlich verhätschelten Mittelschichten, die auch die Masse der Lichterketten bilden, müsste dagegen das rechte nationale Bewusstsein erst aufgebrummt werden.
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„Gerade die Wirtschaft muss und kann verlangen, dass jetzt endlich Schluss ist mit jeder Art von Störungen der politischen Stetigkeit.“ (Reichsverband der deutschen Industrie,1933)
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Genau hier setzt der Kampftrupp um das „Manifest“ ein (nicht zu verwechseln mit dem kommunistischen!). Unter dem Titel „Ein Manifest – Weil das Land sich ändern muss“ – erschien bei Rowohlt Ende letzten Jahres ein Büchlein. Die Autorinnen sind ein Kampfbund schönhuberisch gewendeter Liberaler und Sozialdemokraten. Dazu gehören die Herausgeber von der Zeit, die Gräfin Marion von Dönhoff, der ehemalige Feldwebel und Bundeskanzler Helmut Schmidt, Wolfgang Thierse von der Ost-SPD und der Star aus der Wirtschaft, Mercedes Boss Edzard Reuter. Er verkündet: „Die Zeiten, in denen den meisten von uns gebratene Tauben in den Mund flogen, sind vorbei.“ ( Zeit , 15. Januar 1992) Und weiter: „Gefordert ist vielmehr ein Umdenken, ja ein Umsteuern unserer Gesellschaft. Es geht um die nationale Aufgabe, die beiden Teile Deutschlands zusammenzuführen, es geht aber auch um die Integration aller Länder Europas, es geht um die Bewältigung der sich herausbildenden weltweiten Wirtschaftsordnung, und schließlich geht es darum, zu verstehen, dass jegliche Politik und die damit verbundene Verantwortung global geworden ist.“

Für diese hehren Ziele ist das deutsche Volk nicht reif genug! In einer nationalen Anstrengung wird die freiwillige Unterwerfung aller unter die national globalen Interessen eines neuen Groß-Deutschlands eingeklagt.
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Aber es ist nicht einzusehen, warum es uns so schwer fallen sollte, freiwillig zur Erhaltung des inneren Friedens Verzichte zu leisten, die jeder im Falle eines Krieges selbstverständlich auf sich nimmt. (Manifest)
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Das Manifest fordert in seinem Kampfprogramm: „Wir alle müssen uns ändern. Ein Wandel der Maßstäbe ist notwendig. Das Gemeinwohl muss an die erste Stelle rücken. Wir haben es satt, in einer   Raffgesellschaft zu leben, in der Korruption nicht mehr die Ausnahme ist und in der sich allzu vieles nur ums Geldverdienen dreht. Es gibt Wichtigeres im Leben des Einzelnen und der Nation.“ In dieser Kampfschrift klagen uns die Raffer (Mercedes-Boss) der Raffgier an. Als Schmarotzer wurden bislang ‚Scheinasylanten’, ‚Wirtschaftsflüchtlinge’ und Arbeitslose verleumdet. Jetzt die ganze Gesellschaft! Bruchlos wird hier an dem Antisemitismus der Nazis angeknüpft: der ‚raff-, hab- und geldgierige Jud Süß’. Mit Abscheu soll sich der wahre Deutsche vom Raffen und „reinem Geldverdienen“ wie vom Teufel lossagen.

Nur wird das sich nicht so leicht machen lassen in einer Gesellschaft, in der bislang Ware, Geld, Konsum als die einzigen Götzen verehrt wurden. War doch gerade das Modell Deutschland das Vorzeigemodell einer Leistungsgesellschaft, in der sich Leistung lohnen muss. Hier orakelt Mercedes-Boss Reuter: „Wir beginnen zu ahnen, dass harte Arbeit nicht zu noch mehr Wohlstand führen muss.“

Soll Konsum als einzige wahre Lebenserfüllung plötzlich nichts mehr wert sein? Haben die Realo-Grünen mit ihrer Huldigung an den genussfreudigen ‚Citoyen’ der ‚zivilen Gesellschaft’ wieder mal total daneben getappt? Soll das alles nicht mehr wahr sein, was die letzten vierzig Jahre hoch und heilig war? Wahrlich, wahrlich, sagt das Manifest, uns stehen harte Zeiten bevor.

Wie weit das alles so reibungslos ablaufen wird, wie bislang mit zum Beispiel ‚konzertierter Aktion’, das ist ziemlich offen. Wie weit wird der nationale Konsens als Bindemittel tragen, wenn es ans Eingemachte geht? Wird es dem Staat gelingen, die relativ verhätschelten Mittelschichten in eine Volksgemeinschaft von Kerzenträgern einzubinden? Könnte es nicht auch sein, dass Teile dieser Schichten sehen, dass mit Kerzenschein der Brutalität der Skins nicht beizukommen ist und sich aus der Volksgemeinschaft mit den Brandstiftern und Heuchlern aus Bonn lösen? Wenn ja, muss die Linke diesen Prozess mit Kräften unterstützen, Stattdessen werden z.B. vom Arbeiterbund oder der revolutionären Jugend der brandschatzende Mob und die Lichterketten als zwei Seiten einer Medaille gesehen. „Die flammende Realität brennender Häuser und Flüchtlinge mussten dem Lichterkettenschein weichen. Der aus beiden Feuern entstiegene ‚nationale Konsens’ konnte somit das Anti-Asylpaket hervorbringen.“ (aus Flugblatt „Wer heuchelt zur Zeit durchs ganze Land“) Hier wird in unseliger Tradition die Sozialfaschismus These neu aufgetischt: nur sind jetzt nicht Nazis und SPD die Zwillingsbrüder, sondern Straßenmob und Lichterkette. Wenn sich tatsächlich in diesem unserem Lande schon alle in die Volksgemeinschaft eingereiht hätten, wir hätten keine Möglichkeit aktiven Eingreifens mehr, die Sache wär ja schon gelaufen. Die Kassandrarufe aus Wirtschaft und Politik zeigen genau das Gegenteil.

win


Stadtratte 13 vom März/April 1993, 14.