Materialien 1998

Arbeitslose schlagen Krach

Bundesweit waren Anfang dieses Jahres über 4,8 Millionen Menschen erwerbslos. Erstmals machten Erwerbslose aus Protest vor den Arbeitsämtern mobil, auch in München. Die Bonner Regierungsparteien leisteten mit ihrem „Impulskonzept“ gegen Erwerbslosigkeit den arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Offenbarungseid. Die Münchner Rathausmehrheit übt harsche Kritik daran. Ein ehemaliger CSU-Stadtrat wiederum befürwortet die zwangsweise Dienstverpflichtung von Erwerbslosen. Diese selbst wollen ihren Protest verstärken.

Während bundesweit die Erwerbslosenzahlen auf hohem Niveau ständig neue „Rekorde brechen“, scheint München vergleichsweise günstig dazustehen. Die Stadtoberen verweisen stolz auf die „günstige“ Münchner Erwerbslosenquote von 7,8 Prozent gegenüber 12,6 Prozent bundesweit (Januar 1998). Sicher ist dies ein Aktivposten der derzeitigen „Stadtregierung“. Doch die 71.170 Münchner Erwerbslosen (ebenfalls Januar 1998) können sich mit solchen „Erfolgen“ kaum trösten. Im Gegenteil. Besonders die über 50 Jahre alten Erwerbslosen (sie stellen knapp die Hälfte der Münchner Erwerbslosen) haben schlechte Aussichten. Freie Jobs werden fast ausschließlich an jüngere Arbeitssuchende vergeben. Ständige Leistungskürzungen gestalten das Leben im teuren München sehr schwierig. Hinzu kommen schikanöse Vorschriften und ein rauhes sozialpolitisches Klima, worunter die Erwerbslosen zu leiden haben.

Sven Thanheiser gehörte früher der CSU an, tritt jetzt im Namen von „Neue Demokratie“ im Rathaus auf. Sein neuester Vorschlag: „Kein Geld ohne Arbeit mehr für arbeitsfähige Sozialhilfeempfänger!“ Die Stadt soll dann eine „Beschäftigungsgesellschaft“ gründen. Für DM 1.600,- brutto (das entspricht einem Bruttostundenverdienst von DM 10,-) soll die Gesellschaft den bei ihr Angestellten Arbeiten zuteilen, zum Beispiel in der Schulweghilfe, Behindertenfahrdienst, Schulsanierung, Gewässerpflege, Touristenservice oder Parküberwachung. Wer sich weigert, soll keine Sozialhilfeleistungen mehr bekommen.

Damit bewegt sich dieser Stadtrat ganz auf der Linie von CDU, FDP und CSU. Deren Bonner Regierungskoalition schusterte Anfang Februar ein „Impulskonzept“ zusammen. Die Kommunen und Landkreise sollen etwa 100.000 Sozialhilfeempfänger zusätzlich beschäftigen.

Kosten soll das Konzept den Bund nichts. Zutreffend kritisierte die Münchner Stadtspitze, dieses Bonner „Impulskonzept“ sei letztlich eine Bankrotterklärung der Koalitionsparteien. Kosten und Verantwortung hätten allein die Kommunen zu tragen. Verschwiegen wird, dass all diese Konzepte Formen von Zwangsarbeit sind. Und wie – zum Beispiel in München – ein Erwerbsloser von DM 1.600,- brutto leben soll, das scheint auch keiner weiteren Überlegung wert?

Vergessen wir nicht, dass eine in Bayern und München nicht ganz unbedeutende Partei, die CSU, die Mitverantwortung für die Misere auf dem Arbeitsmarkt trägt, in Bonn Konzepte entwickelt, die an Sinnlosigkeit und Zynismus kaum noch zu überbieten sind. Die Erwerbslosen wollen nun nicht mehr locker lassen. Dem französischen Vorbild folgend, sollen Monat für Monat Protest und Widerstand öffentlich geäußert werden – auch in München.

Nebenbei: Wer es von den „Arbeitsplatzbesitzern“ irgend einrichten kann, sollte sich daran beteiligen.

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„Aufruf an alle Erwerbslosen und diejenigen, die es nicht werden wollen.

Wir treffen uns am Donnerstag, den 5. März um 10.00 Uhr vor dem Arbeitsamt München, Kapuzinerstraße 26, zur Bekanntgabe der aktuellen Arbeitslosenzahlen, anschließend gehen wir an die Börse. Wo die Aktienkurse steigen, sind wir nicht weit.“

Die Aufrufer sind: Koordinationsstelle gewerkschaftlicher Arbeitslosengruppen Bielefeld; Arbeitskreis Arbeitslosigkeit in der IG Medien München; Arbeitskreis Arbeitslosigkeit in der IG Metall München; Euromarsch-Initiative München; IG Medien Ortsverein München; HBV Ortsverwaltung München. Ansprechpartner: Christiaan Boissevain, T. (089-)540 722 83, Erich Guttenberger, T. (089-) 140 96 84. Über diese Ansprechpartner ist auch Kontakt zu den regelmäßig tagenden Arbeitskreisen Arbeitslosigkeit möglich.


Haidhauser Nachrichten 3 vom März 1998, 1 ff.

Überraschung

Jahr: 1998
Bereich: Armut

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