Materialien 1998

Lassen uns den Mut nicht nehmen

Arbeitslosen-Demo am 9. Juni

Wir dokumentieren im nachfolgenden Text eine
Rede bei der letzten Arbeitslosenaktion in München.

Liebe Arbeitslose, liebe Kolleginnen und Kollegen,

die Arbeitslosenzahl ist im Mai um 223.400 auf 4,197 Millionen zurückgegangen. Erstmalig seit drei Jahren ist dies kein neuer Nachkriegsrekord.

Der wirtschaftspolitische Sprecher der CDU, Verkehrsminister Matthias Wissmann, erklärte, nach dem — so wörtlich — Durchbruch im Westen stehe auch im Osten eine Trendwende auf dem Arbeitsmarkt bevor.

Die CSU erwartet im Sommer den Rückgang der Arbeitslosenzahl unter die Marke von vier Millionen. CSU-Generalsekretär Bernd Protzner erklärte, Deutschland stehe vor einem — so wörtlich — „zweiten Wirtschaftswunder“. Merken wir uns diese Aussagen gut …

Und sehen wir uns doch mal genauer an, wie diese Verringerung zustande gekommen ist: Die Bundesregierung hat in diesem Jahr 17 Mrd. DM für aktive Arbeitsmarktpolitik, in erster Linie ABM-Massnahmen, ausgegeben. Das ist fast das doppelte wie im ganzen vergangenen Jahr. Es ist ja auch Wahlkampf. Und sie hat auf unsere Proteste reagiert.

Ich freue mich für jeden, der wieder in Lohn und Brot gekommen ist, und ich freue mich über jede noch so kleine Einsicht der Bundesregierung. Aber was sagen diese Zahlen letztendlich: Die Regierung straft sich selbst Lügen: Sie hat sich damit selbst eingestanden, dass die Selbstheilungskräfte des Marktes keine Arbeitsplätze schaffen, Beschäftigungsprogramme — in Maßen — aber sehr wohl. Die Regierung hat sich selbst eingestanden, dass es unverantwortlich ist, die Beschäftigungspolitik allein den Unternehmen zu überlassen. Denn wo sind die Arbeitsplätze aufgrund der Verlängerung der Ladenöffnungszeiten? Wo sind die Arbeitsplätze aufgrund der Lockerung des Kündigungsschutzes (allein das ist ja schon ein Widerspruch in sich)? Wo sind die Arbeitsplätze aufgrund der Kürzung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall? Hunderttausende von Arbeitsplätzen wurden uns versprochen. Es gibt aber keine! Die Arbeitsmarktpolitik den Selbstheilungskräften des Marktes zu überlassen ist dasselbe wie einem Betrunkenen eine Flasche Schnaps zum Ausnüchtern zu geben.

Wir fordern nach wie vor:

Eine aktive Beschäftigungspolitik, die den Namen auch verdient. Da, wo Arbeitsplätze sich nicht „rechnen“, müssen sie geschaffen werden. Ein Krankenhaus ist schließlich dazu da, dass es Kranke heilt, und nicht dazu, dass es sich rechnet.

Weiterhin fordern wir Arbeitszeitverkürzung, soziale Absicherung für jeden und Umverteilung von oben nach unten. Wir fordern, dass Schluss sein muss mit jeder Art von rassistischer Ausgrenzung.

Diese Regierung sollte ihren Bankrott endlich eingestehen. Sie muss weg. Wir brauchen Widerstand von unten!

Liebe KollegInnen, dieser Widerstand findet auch statt. Heute haben lt. Schätzungen der Bundeskoordinierungsstelle in Bielefeld 50.000 Arbeitslose in über 300 Städten gegen Sozialabbau und für die Schaffung neuer Arbeitsplätze demonstriert. Schwerpunkte waren diesmal Aktionen in Weimar, Nürnberg und beim DGB-Bundeskongress in Düsseldorf.

Lassen wir uns nicht entmutigen, weil wir so wenige sind! Diese Proteste laufen bundesweit und regelmäßig, das ist nicht selbstverständlich. Ich erinnere daran, was uns bei der letzten Aktion Patrice Spadoni von AC aus Frankreich gesagt hat: Auch die Proteste in Frankreich haben klein angefangen, und unsere Proteste haben den KollegInnen in Frankreich Mut gemacht. Lassen auch wir uns den Mut nicht nehmen!

Gitti Götz


Münchner Lokalberichte 12 vom 18. Juni 1998, 1.

Überraschung

Jahr: 1998
Bereich: Armut

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