Materialien 1998

Nachbemerkung

Wenn das, was wir so allgemein unter Wahrheit verstehen oder zu verstehen gelernt haben, zur Passion wird, wenn diese Wahrheit erlösen will oder retten, wenn sie absolut sein will sowieso, aber auch schon da, wo sie nur aufklären will, ist sie nie schön. Sie ist dann hässlich und geschmacksfern, ein grobgewachsenes Aufgedunsenes, dem jede Eleganz und oft Beweglichkeit fehlt, aber leider nicht Wendigkeit. Wahrheit als Passion ist ein permanentes Geschwür kurz vor dem Aufbrechen, dessen Nähe niemand lang aushält, der ihm nicht als Selbstmörder zu entgehen trachtet.

Wahrheit ist nur sublimiert zu ertragen, als das Absolute zwar, dem man aber mit eleganten Bewegungen ausweicht, um aus der Ferne darauf weisen zu können, rückblickend, wie auf etwas Vergessenes. So will es der breite Konsens, der gleichwohl als Instrument der Maßregelung nicht auf sie verzichten will. So wird die Wahrheit auch überdauern, als unsichtbare Richtschnur, die wir weder hören noch berühren können, weil sie mitten durch uns durchgeht. Ich glaube nicht, dass das Theater mit seiner Eigenart, das Hässliche — die Wahrheit also — dem Genuss zuführen zu wollen, um ihre Allgegenwart ertragen zu können, demnächst oder irgendwann verschwinden wird.

Aber da dieser Versuch immer wieder aus dem Gleis läuft und einer wie Schlingensief dann auf die reine Wahrheit in ihrer gesamten Hässlichkeit zurückgreift, ohne zu verfeinern — muss das durchlebt und ausgehalten werden können, wie ein Wundfieber. Wer das nicht überlebt, wird eben auch den Genesungsprozess nicht erleben, der als einziges uns für kurze Momente die Schönheit der Welt aufzeigt. Schlingensief bringt nur die Richtschnur, die uns sowieso durchschneidet, wieder ins belebende Lot.

Aber eines mag ich mit Ausrufezeichen schon noch angehängt wissen: Dem Schlingensief seinem Wahrheitsversuch fehlt jeglicher Absolutheitsanspruch! Und er ist frei vom geringsten Erlösungsgetue! Und er hat auch nichts zu Vergleichendes mit jenen, die die unsichtbare Richtschnur schon mal hin- und herwetzen wie Zahnseide, um sich selbst zu putzen, so wie einige seiner artverwandten Gegner, Peymann und Langhoff etwa, damit ihre zubeißenden Zähne gut, schön und wahr scheinen. Geruchsfrei halt.

Josef Bierbichler


Zeichen 4. Josef Bierbichler, Bensheimer Rede; Engagement und Skandal. Ein Gespräch zwischen Josef Bierbichler, Christoph Schlingensief, Harald Martenstein und Alexander Wewerka; mit einem Essay von Diedrich Diedrichsen, Berlin 2002.

Überraschung

Jahr: 1998
Bereich: Kunst/Kultur

Referenzen