Flusslandschaft 1965

Kunst/Kultur

FILM

Das Kuratorium Junger Deutscher Film e.V. wird mit dem Ziel „in ausschließlich und unmittelbar gemeinnütziger Weise das deutsche Filmschaffen zu fördern und eine Erneuerung des deutschen Films anzuregen“ am 1. Februar 1965 mit Sitz in München gegründet.1

Filmemacher schließen sich zur Münchner Gruppe zusammen und erproben neue Formen der Pro-
duktion.2

LITERATUR

„Am 25. Februar und 4. März bringt die Lesebühne ‚art.5’ als deutsche Erstaufführung von Marcel Aymé ‚Der Herr von Clerambard – ein Lehrstück über den schwierigen Gebrauch christlicher Mo-
ral’. In den Hauptrollen lesen Siegfried Lowitz, Christine Ostermayer, Fritz Strassner u.a. Wegen der anhaltenden Nachfrage wiederholt ‚art.5’ außerdem am 26. Februar noch einmal Sartres ‚Ne-
krassow’.“3

Peter Paul Althaus (PPA) verkriecht sich in den letzten Jahren vor seinem Tod in seiner Wohnung nicht nur wegen seiner Krankheit, sondern auch aus Gram darüber, dass sein Schwabing immer mehr zur touristenbevölkerten „Reeperbahn“ verkommt.4

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MUSIK

Karl Amadeus Hartmann: „… Das Aufblühen der offiziell geförderten Mittelmäßigkeit, die absolute geistige Leere im Land, die Begeisterung der Massen für den Triumph des Kitschs und der Geistlo-
sigkeit ließen an der selbstgestellten Aufgabe zweifeln …“6

THEATER


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Peter Weiss nahm als Zuschauer am Frankfurter Auschwitzprozess von Dezember 1963 bis August 1965 teil. Am 19. August werden in Frankfurt am Main die Urteile verkündet. Aus den Prozesspro-
tokollen entwickelt Weiss elf „Gesänge“ von stetig wachsendem Grauen – von der Ankunft der Op-
fer im Lager bis zum Feuerofen – und errichtet aus der kalt funktionierenden Tötungsmaschinerie ein Theaterstück, in dem verharmlosende, abstreitende und sich rechtfertigende namentlich ge-
nannte Angeklagte auf die Fakten berichtenden, anonymen Zeugen treffen.

Am 19. Oktober findet die Premiere der „Ermittlung. Oratorium in 11 Gesängen“ von Peter Weiss auf über zehn deutschen Bühnen, darunter auch im Werkraumtheater der Münchner „Kammer-
spiele“
, statt. Eine heftige Auseinandersetzung beginnt, in der auch gegen Weiss gehetzt wird. Ludwig Marcuse meint im Bayerischen Rundfunk, Weiss habe „Auschwitz in den Dienst des Ul-
bricht-Reichs“8 gestellt.

Literaturpapst und Edelfeder Joachim Kaiser wettert in seinem „Plädoyer gegen das Theater-Auschwitz“ gegen die „Ermittlung“, sieht das Publikum um seine innere Freiheit betrogen, meint, dass jede handwerkliche Überlegung zur Inszenierungspraxis „schamlos“ sei, sieht als Ergebnis künstlicher Theatralik künstlichen Gewissensaufruhr und zugleich Beschwichtigung: „Kann sich die Bühne eine Auschwitzdokumentation leisten? Wird da nicht der unselige aber typisch deutsche Versuch gemacht, auf dem Theater Ersatzentscheidungen herbeizuführen, während man sich um reale Sinnesänderung herumdrückt? Ist die Uraufführungsorgie nicht ihrerseits sogar ein Zeichen von Beflissenheit, Trägheit und schlechtem Eifer?“9

Wolfgang Graetz’ Stück „Die Verschwörer“ beschäftigt sich mit dem Aufstand des 20. Juli 1944. Einige Theater, der Hessische Rundfunk und die Münchner Kammerspiele zeigen Interesse, machen aber schnell einen Rückzieher, als immer deutlicher wird, dass Graetz am Mythos „20. Juli“ kratzt. Fachgutachten artikulieren Zweifel, eine Pressekampagne schüchtert diejenigen ein, die für Aufführungen plädieren.

„Michael Graf Soltikow drohte bereits Ende Mai dieses Jahres, dass er wegen der geplanten Auf-
führung des Stücks das Bundesverfassungsgericht anrufen werde. Angeblich verstoße das Stück gegen mehrere Artikel des Grundgesetzes. Soltikow gab an, als Vertreter der Witwen und Waisen der Opfer des 20. Juli zu handeln. Diesem Einschüchterungsversuch ließ Soltikow jedoch keine konkreten Schritte folgen, er wiederholte ihn lediglich am 28. Oktober 1965 in München. An die-
sem Tag verhalf die Lesebühne der Humanistischen Union dem Stück erstmalig zu einem größeren Publikum (und einem großen Publikum erstmalig zur Bekanntschaft mit einem Stück, das ihm die subventionierten Theater unseres Landes offensichtlich vorzuenthalten gedenken). Vor der Lesung ließ Soltikow einen Brief verteilen, in dem er ‚namens von Witwen der Opfer des 20. Juli 1944, die er seit 1945 ehrenamtlich vertrete und zugleich im eigenen Namen’ gegen die Urlesung Protest einlegte. Er wies ferner ‚mit großem Ernst und Nachdruck darauf hin, dass dieses unwahrhaftige Stück von vorn bis hinten eine Verunglimpfung von Toten darstellt und damit eine Straftat, die gemäß § 189 Strafgesetzbuch mit Gefängnis bis zu zwei Jahren bestraft wird. Sollte dieses „Thea-
terstück“ wirklich heute verlesen werden, so werden wir mit allen gesetzlich erlaubten Maßnah-
men gegen die Verantwortlichen vorgehen.’ Die Einschüchterung misslang, die Lesung fand statt …“10

BILDENDE KUNST und AKTIONEN

Am 24. Oktober veröffentlicht die Gruppe „Geflecht“ ihr Manifest.11

Siehe auch „Zensur“.

(zuletzt geändert am 13.12.2020)


1 Vgl. Kuratorium junger deutscher  Film e.V. (Hg.), Kuratorium Junger Deutscher Film 1965 – 1976. Zielsetzung, Entwicklung, Förderungsweise. Bearbeitet von Hermann Gerber, München 1977, 7.

2 Siehe „Münchner Gruppe …“.

3 Mitteilungen der Humanistischen Union 19 vom Januar/Februar 1965, 4.

4 Siehe „Peter Paul Althaus“ von Rolf Flügel sowie „Wir sind das Volk“ von Peter Paul Althaus 1960.

5 Flugblattsammlung, Archiv der Münchner Arbeiterbewegung

6 Karl Amadeus Hartmann, Über mich selbst und meine Arbeit. Kleine Schriften, Mainz 1965.

7 Flugblattsammlung, Archiv der Münchner Arbeiterbewegung

8 kürbiskern. Literatur und Kritik 2/1966, 87.

9 Süddeutsche Zeitung vom 4./5. September 1965.

10 kürbiskern. Literatur und Kritik 1/1966, 10.

11 Siehe „Gruppe Geflecht: Manifest“.