Materialien 2003

München-Schwabing: Der Naziterror geht weiter

Wenige Tage nach der Festnahme von Mitgliedern der „Kameradschaft Süd“ kam es zu einem nazistischen Mordversuch in München-Schwabing. Elf angetrunkene Nazis griffen um 2 Uhr nachts am Sonntag, dem 14. September, einen schwarzen amerikanischen Staatsbürger an. Dieser verteidigte sich am Busbahnhof an der Münchner Freiheit, mit einem Verkehrsschild. Zu seinem Glück, fuhr zufällig ein ziviles polizeiliches Einsatzfahrzeug vorbei. Der Angegriffene rettete sich in den Einsatzwagen. Daraufhin attackierte die braune Bande den Polizeiwagen. Danach versuchten die Faschisten zu verduften, was ihnen aber nicht gelang.

Elf Nazis wurden festgenommen, auf der Wache wurden sie neuerlich gewalttätig. Wie aus Polizeikreisen verlautet, stehen die Festgenommenen in enger Verbindung mit dem Nazi Martin Wiese. Ihr „Führer“ und weitere „Kameraden“ wurden letzte Woche festgenommen. Die Nazibanditen planten einen Sprengstoffanschlag am 9. November, anlässlich der Grundsteinlegung für ein jüdisches Gemeinde und Kulturzentrum am fünfundsechzigsten Jahrestag der Reichspogromnacht. Hunderte von Bürgern, hauptsächlich jüdischer Abstammung, aber auch Angehörige der politischen Prominenz hätten sterben können. Mittlerweile ist bekannt, dass die Faschisten auch andere Anschlagsziele im Visier hatten. Es ist von einer Moschee, von einer griechischen Schule und einem spanischem Kulturzentrum die Rede. Höchste Priorität hatten nach polizeilichen Erkenntnissen, jedoch jüdische Objekte. Das entspricht auch dem nazistischem Hasskalender. Grundsätzlich sind, wie der Angriff auf den amerikanischen Staatsbürger an der Münchner Freiheit zeigt, alle, die nicht den „Rassegeboten“ der Nazis entsprechen, potentielle Opfer. Aber auch Politiker wie der brave Sozialdemokrat Franz Maget standen auf der Liste der braunen Gesellen.

Die Presse und Innenminister Beckstein

Am Montag, dem 15. September 2003, verurteilten alle großen Zeitungen entschieden den nazistischen Terrorakt an der Münchner Freiheit. Herr Beckstein zeigte sich „bestürzt über den Angriff“, er kündigte harte Maßnahmen gegen die von ihm so bezeichnete „Braune Armee Fraktion“ an. Der brave bundesdeutsche Staatsbürger, der etwas gegen Nazis hat, kann sich demzufolge beruhigt zurücklehnen. Der Beckstein und die Presse wird es schon richten, soll suggeriert werden. Solche Vorstellungen sind prinzipiell falsch. Im Gegensatz zur Berichterstattung in den Medien handelt es sich bei den Naziterroristen nicht um eine Szene, die im politischen Abseits operiert. Im Gegenteil, ihre politische Rolle speist sich aus dem Gedankengut, das aus der Mitte der Gesellschaft kommt. Es gibt in Deutschland einen weitverbreiteten rassistischen Konsens. Asylbewerber werden meist als „Betrüger und Problem“ wahrgenommen. Ein Gerichtsurteil sah kürzlich in der Folter kein Abschiebehinderniss, „da das in dem genannten Land weitverbreitet sei“. Der Mensch soll abgeschoben werden, die Folter ist faktisch zu einem „Kulturgut“ erklärt. Der Presse war dieses Gerichtsurteil nur eine Randnotiz wert.

Einer der stärksten Befürworter einer rigorosen Abschiebepolitik ist der bayerische Innenminister Beckstein. Vor einigen Jahren startete die CSU eine Kampagne gegen den Doppelpass. Im Münchner Rathaus unterschrieben damals Tausende „Gegen die Ausländer“, wie sie es nannten. Die CSU warnt beständig vor einer „Überfremdung“ des Landes und fordert eine „deutsche Leitkultur“. Kein Wunder, dass die Nazis sich positiv angesprochen fühlen und die „Leitkultur“ in ihrem Sinne befördern wollen. Im Jahr 1997 versuchte Beckstein eine nazistische Demonstration in München gegen die Ausstellung „Verbrechen der Wehrmacht“ auf Teufel komm raus zum Münchner Marienplatz durchkommen zu lassen. Allerdings stellten sich im Jahr 1997 rund 150.00 Münchner den 5.000 Nazis in den Weg. Beckstein wertete dies, als massiven Eingriff in die demokratischen Rechte einer zugelassenen Partei (der NPD). Kein Wunder, in jener Zeit agitierten Nazis und CSU gemeinsam gegen die „Verleumdung der Wehrmachtssoldaten“.

Die Nazis haben auch Erfahrungen damit gesammelt, dass die politische Kaste braune terroristische Aktionen dazu benützt, die rassistische Gesetzgebung zu verschärfen. Unmittelbar nach den pogromartigen Ausschreitungen in Rostock 1992 und den Nazimorden im Jahr 1993, wurde das Asylrecht in Deutschland entscheidend minimiert. Die Spitze des Rassismus stellt selbstverständlich der Antisemitismus dar. Der Antisemitismus ist ein ausgearbeitetes theoretisches Wahngebilde. Mittels des Antisemitismus kann vermeintlich sowohl der Kapitalismus als auch der Kommunismus erklärt werden. Das Konstrukt einer jüdisch-bolschewistischen Plutokratie, die im Geheimen die Welt regiert, spukt in vielen „treudeutschen Gehirnen“. Der Ausgangspunkt dieser Betrachtung ist die „Rasse“ und das Blut, welches den Juden angeblich schlecht machen. Letztere Feinderklärung gilt für jeden, der kein „deutsches Blut“ in den Adern hat. Es gibt dennoch einen Unterschied. Der Türke oder Slawe wird bespuckt, beleidigt und attackiert. Kein deutscher Rassist käme jedoch auf den Gedanken, dem Menschen aus Togo oder dem Albaner, eine „Weltmachtrolle“ zuzugestehen oder zu behaupten, es gäbe eine Verschwörung der Weisen von Ruanda, um die Welt zu beherrschen.

Der Antisemitismus ist die Spitze des sozialdarwinistischen Rassismus. Die Prämisse für jeden Rassisten ist die Frage nach dem Blut und der Herkunft der Menschen, um die Teilung in gut und erhaltenswert sowie schlecht und unbrauchbar zu machen. Der Rassismus ist eine barbarische Ideologie, die alle Nicht-Deutschen bespuckt und beleidigt und als rassenbiologische Ideologie in letzter Konsequenz den Juden nach der rassistischen Katalogisierung am härtesten trifft. Aus diesem Grund waren für die Nazis die wichtigsten Anschlagziele in München jüdische Einrichtungen. Herr Beckstein kann gar nicht konsequent gegen den Antisemitismus sein, denn er steht für das rassistisch definierte deutsche Staatsbürgerschaftsrecht aus der Kaiserzeit. Nach dem Gesetz, wird die Staatsbürgerschaft mit dem Blut und der Abstammung in Verbindung gebracht.

Was erregt Beckstein?

Zunächst geht es Beckstein um das Ansehen Deutschlands in der Welt. Ein Anschlag am Jakobsplatz hätte die Wettbewerbsfähigkeit des „Standortes Deutschland“ gefährdet. Nebenbei hätte man selbst unter den Opfers sein können. Denn sowohl Ministerpräsident Stoiber als auch Bundespräsident Rau sind als Gäste für die Grundsteinlegung für das neue jüdische Zentrum in München geladen. Die CSU sieht die Interessen der deutschen Konzerne in der Schlacht um den Weltmarkt. Offener und mörderischer Antisemitismus sowie nichtstaatlich organisierte rassistische Menschenjagden schaden dem Markenartikel „Made in Germany“. Dies begreift der nazistische Mob nicht so ganz und deshalb wird auf ihn eingedroschen.

Der „Kameradschaftler“ aus der „ Kameradschaft Süd“ versucht Herrn Walser wörtlich zu nehmen und hat nicht kapiert, dass ein „fanatischer Antisemitismus“ noch nicht gefragt ist. Die Ablehnung des „fanatischen Antisemitismus“ zieht sich durch viele Zeitungsartikel und diverse Statements. Diese Formulierung sollte nachdenklich stimmen: Warum wird eigentlich nur der „fanatische Antisemitismus“ abgelehnt und nicht jeglicher Antisemitismus? Liegt es vielleicht daran, dass es in Deutschland keinen Antisemitismus gibt? Auch keinen partiellen und latenten? Wohl kaum, wer daran glaubt, glaubt auch, dass der Mond eine Kuh ist, ein Euter hat und Milch gibt.

Natürlich gibt es im heutigen Deutschland selten selbsterklärte Antisemiten, dennoch gibt es sie und zwar zuhauf. Die politische Mitte in Deutschland versucht jenen bedrückten Wiener zu rehabilitieren, der im Jahr 1946 gegenüber einem bekannten jüdischen Kabarettisten sein Leid klagte: „Das Schlimmste, was uns dieser Hitler angetan hat, ist, dass er uns unseren guten, alten Antisemitismus kaputt machte.“ Dieser Typ des Antisemiten, befindet sich noch im Gegensatz zum bombenden Antisemiten Wiese. Jene Gestalten, die Herrn Walser anlässlich seiner Paulskirchen-„Schlußstrichrede“ im Jahr 1998 stehend applaudierten, befinden sich in allen politischen Parteien. Selbstredend auch in der CSU. Herr Beckstein ist mit der Tatsache vertraut, dass es in diesem Land Antisemiten gibt. Von ihm selbst ist keine antisemitische Äußerung bekannt, was aber nicht heißt, dass er hier keine Ambitionen hätte. Er steht für den rassistischen Konsens in diesem Land. Im Streit um die Entschädigung für Zwangsarbeiter teilte Beckstein die Haltung der Industrie, auf eine biologische Lösung der Frage zu setzen.

Im Rahmen der Debatte zur „Zwangsarbeiterentschädigung“ gab es viele antisemitische Beiträge in bekannten Medien. Herr Beckstein legte hier eine bezeichnende Zurückhaltung an den Tag. Als erfahrenem Politiker ist ihm klar, dass ein antisemitisches Gemüt gepflegt sein will, auch in der eigenen Partei und in der Wählerschaft. Von dieser Person einen ernsthaften Kampf gegen den Antisemitismus zu erwarten ist genauso naiv wie von einer Kuh eine großartige Eiskunstlaufleistung zu erwarten. Was Herrn Beckstein wirklich erregt, sind geistig minderbemittelte Nazis, die dem Standort Deutschland gefährlich werden könnten. Diese Leute verachtet und bekämpft Beckstein. Obwohl er und seines Gleichen immer wieder durch ihre zum Teil rassistischen Bierzeltreden und Praktiken in die Rolle des Zauberlehrlings geraten. Der Nazi radikalisiert und verabsolutiert den Diskurs, der von Beckstein über Walser bis hin zu sogenannten Antizionisten geprägt wird. Diese Verabsolutierung erregt den Innenminister ernsthaft. Dagegen will er auch handeln. Dass dabei auch nach links geschlagen wird, versteht sich bei der CSU. Völlig daneben liegt allerdings die „Junge Welt“, die in ihrer Ausgabe vom 14 September 2003 im Stil des nazistischen Störtebeker-Netzes herumspekuliert. Die „Junge Welt“ äußert den Verdacht einer Inszenierung des Sprengstoff-Fundes bei der „Kameradschaft Süd“ durch bayerische Staatsorgane, um das Versammlungs- und Demonstrationsrecht abzubauen. Natürlich hegt Beckstein solche Absichten. Ihm aber eine Inszenierung nazistischer Mordgelüste zu unterstellen, um die ach so starke Linke zu schwächen, ist nur noch blödsinnig. Am Besten belegt das die Debatte in den Cafés an der Münchner Freiheit am Tag nach dem Mordversuch.

Dieter Bohlen und Naddel

Einen Tag nach der Naziaktion, wurde viel über das Buch (Ungelogen!) der ehemaligen Ehefrau von Dieter Bohlen geplaudert. Auch die Niederlage des FC. Bayern in Wolfsburg war ein Thema. Der nazistische Mordversuch am Busbahnhof war kein Thema, obwohl jede Zeitung über die Aktion direkt vor der Haustüre berichtete. Es wird auch erstaunlich wenig über den geplanten Anschlag gegen die jüdische Gemeinde gesprochen. Um es zynisch auszudrücken: 1,7 Kilogramm TNT gegen Juden und andere, ein Mordversuch gegen einen Schwarzen vor der Haustüre, berührt die Meisten nicht. Davon ist man ja nicht betroffen, zur Grundsteinlegung am 9. November wäre man eh nicht gegangen und der Angegriffene war ein Schwarzer. Wie der FC Bayern spielte und warum Olli Kahn wieder einen schweren Fehler machte, ist interessanter. Das ist keine Momentaufnahme von der Münchner Freiheit; solche Befindlichkeiten, Gleichgültigkeit gepaart mit Rassismus und latentem Antisemitismus, prägen weite Teile des Landes.

Max Brym
September 2003


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