Flusslandschaft 1965
Zensur
Zensur soll Moral retten. Anfang des Jahres 1964 kam Ingmar Bergmanns Film „Das Schweigen“ in die Kinos. Im Spätsommer 1964 formierte sich ausgehend vom bayerischen Schweinfurt in vielen Kommunen die so genannte Aktion „Saubere Leinwand“, die nach Zensur, Kontrolle und einer Änderung des Grundgesetzes rief, das Jugendschutzalter von 18 auf 21 Jahre erhöhen wollte und zum Boykott gegen Kinobesitzer aufrief. Im Mai 1965 planen die CSU-Bundestagsabgeordnete Maria Probst und der CDU-Bundestagsabgeordnete Adolf Süsterhenn eine Grundgesetzänderung. Die Verfassungsbestimmung „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei“ soll ergänzt werden: „Die Freiheit der Kunst entbindet nicht von der Beachtung des Sittengesetzes.“ Parallel zur Durchsetzung einer Notstandsverfassung im politisch-ökonomischen Feld läuft neben der Leinwand-Kampagne auch die Aktion gegen die Diktatur der Zügellosigkeit, die sich auf das „ge-
sunde Volksempfinden“ gründet, um in kulturellen Bereich konservative moralische Maßstäbe als verbindlich herrschende „im Rahmen der allgemeinen sittlichen Ordnung“ durchzusetzen. Und da wird nicht nur argumentiert, da wird gedroht: „Wer nein zur Bürgeraktion sagt, unterstützt damit jene, welchen entweder ihr Tanz um das Goldene Kalb oder ihre pseudoavantgardistische Führer-
schaft oder gar ihre Wühlarbeit zugunsten des Kommunismus mehr gilt als Verantwortung für unser Volk und dessen Jugend.“1 Jetzt machen auch die Gegner der „Saubermänner und -frauen“ mobil. Die Humanistische Studentenunion verteilt im Juni und Juli Flugblätter, ein Aufruf zu einer „Reaktion Saubere Leinwand“ erscheint.2
Im Herbst ist Bundestagswahl. Darauf zielt ab Januar 1965 das Münchner Rationaltheater (Horst A. Reichel, Reiner Uthoff, Wolf Euba, Brigitte Koesters, Axel Muck) ab, das im Theater 44 in der Hohenzollernstraße 74 in Schwabing spielt. Das Programm heißt „Henkerswahlzeit“. Im Herbst trennen sich Uthoff und der Texter Ekkehard Kühn von der Truppe und eröffnen am anderen Ende der Straße, in der Hohenzollernstraße 20, einen eigenen Laden. „Hier trieben sie ihre Dokumenta-
tionswut so weit, dass, als sie einige den damaligen Bundespräsidenten Lübke belastenden Doku-
mente aus der Nazizeit in ihrem Schaukasten ausstellten, die Staatsanwaltschaft einschritt und den Kasten von der Polizei ausräumen ließ.“3 1976 zieht Uthoff mit Kühn in die Hesseloherstraße 18 um. Dort inszeniert er über 35 Stücke und führt sie zusammen mit Jochen Busse, Otto Sander, Sigi Zimmerschied, Bruno Jonas und vielen anderen auf. Die Programme im Rationaltheater sind von Anfang an nonkonformistisch und scheuen keine Auseinandersetzung. Die Folge sind 61 Strafver-
fahren wegen Gotteslästerung, Beschimpfung des Staatsoberhauptes und anderen Delikten, die heute in keinem deutschen Gesetzbuch mehr zu finden sind. Die ungewollte Öffentlichkeitsarbeit der Staatsanwaltschaft machte das Kabarett schnell über München hinaus bekannt. Im Gästebuch finden sich Namen wie Herbert Wehner, Willi Brandt, Rudolf Augstein und Günter Grass. Die Bühne im Rationaltheater ist Reiner Uthoff aber nicht genug. Mit Edgar Reiz und Ula Stöckl baut er in das Theater ein 16mm-Kino, etabliert Filmnächte und bedient nach den Kabarettvorstellun-
gen im „Kneipenkino“ alles, nur keinen Mainstream. Nach Inkrafttreten der bayerischen Verord-
nung für die „saubere Leinwand“ lässt die Reaktion der bayerischen Hüter für Ordnung und Sitte nicht lange auf sich warten. Zwei Beamte der Polizeiinspektion Schwabing gehören lange Zeit zu seinem treuesten Publikum. Allerdings schulden sie ihm den Eintritt bis heute. 2009 beenden Irm-
hild Wagner und Horst A. Reichel die Ära des zuletzt ältesten Privattheaters der Stadt mit dem Stück, mit dem sie 1962 das Theater 44 eröffnet haben: Jean Paul Sartres „Geschlossene Gesell-
schaft“.
Die „Studiobühne an der Universität München“ plant im Dezember eine szenische Lesung des Liebeskonzils von Oskar Panizza. Theologieprofessor Klaus Mörsdorf beruft sich darauf, dass Pa-
nizza 1895 für das Stück wegen Gotteslästerung zu einem Jahr Freiheitsstrafe verurteilt wurde und beschwert sich, woraufhin der AStA den Kartenvorverkauf einstellt und der Rektor der Theater-
gruppe empfiehlt, das Stück abzusetzen. Siehe auch „Zensur“ 1966.
Siehe auch „Alternative Medien“.
1 „Bürger sollen die Leinwand säubern“ In: Süddeutsche Zeitung 124 vom 25. Mai 1965; vgl. dazu auch Mitteilungen der Humanistischen Union 22 vom Juli/August 1965, 5.
3 Klaus Budzinski, Vorwitz aus Hinterzimmern. Kleines Brettl – großes Kabarett, in: 1200 Jahre Schwabing. Geschichte und Geschichten eines berühmten Stadtviertels, München-Gräfelfing 1982, 22.